Aushäusige

Textauszug: Erstes Kapitel S.5-23 (dtv-Ausgabe)

1

Jetzt, sagt sich Rita, wird der Moment kommen, jetzt beugt er sich über den Tisch, streift das Gedeck, der Teller mit den Fischgräten wird umkippen, da stülpt Ennio seinen Körper bereits über die Tischplatte, greift nach dem Radio, dreht von einer Frequenz zur anderen, bis er den sonntäglichen Sender empfängt, die Tor- und Abseitsstimmen ihr neuerliches Warten einleiten. Erst nach abgepfiffenem Spiel darf sie ihre Hilfestellung verlassen, sind Gläser und Teller wieder in Sicherheit, wird weitergedreht oder abgeschaltet.
Obwohl sie hofft, er würde den Raum verlassen, bleibt er vor ihr sitzen, die Hände in Betstellung auf Kinnhöhe, den Kopf auf den Daumenkuppen ruhend, und als gäbe es sie gar nicht, als kehrten die Speisereste von selbst in die vorgesehenen Schränke zurück, starrt er ohne Unterlaß auf die Bierflaschen, die trotz wiederholten Zuschlagens der Kühlschranktür nicht aus seinem Gesichtskreis verschwinden. Rita dreht ihm den Rücken zu, wirft einen Topf ins Spülbecken, legt die Teller laut aufeinander. Mit der Zeit hört sie auf, ihn herauszufordern. Seine Schultern haben etwas Hängendes bekommen, zucken verächtlich, wenn sie ihn anschaut. Ennio kann Fragen und Antworten nicht mehr auseinanderhalten, äußert

Zweifel und Befremden, indem er die Augen verdreht, Mund und Wangen bewegt, immer seltener in verständlichen Worten, Sätzen. Er drückt einen Fingernagel ins Holz, wippt mit den Beinen auf und ab, bis ihr das Schaukeln, das Rütteln der Bank zuviel wird, sie verärgert nach seinen Beinen greift: Hör auf damit, ich halt` dich nicht aus.
Rita bleibt keine Zeit für Vorhaltungen, da steht Ennio schon auf, fällt, als würde er ihrem Blick nicht standhalten, nach vorne, um gleich wieder zurückzufedern, um sich bei ihr abzustoßen, bei ihr Kraft zu holen für die Strecke zwischen Küchentisch und Schlafzimmer, die er nur mit Mühe, die Beine steif hinter sich herziehend, gegen Möbel und Türpfosten schlagend, zurücklegt.
Allein, zwischen den Stühlen, denkt sie daran, wie es wäre, wenn sie statt der Zeit, der Jahre, ihn totschlagen, vorsätzlich und heimtückisch auf ihn einschlagen würde, bis der Kopf auf die Brust fiele, zum letzten Mal zuckte. Sie würde noch einmal, befreit von diesem sich langsam zersetzenden, andauernd nach Fisch riechenden Körper, einen Vorstoß ins Leben wagen. Doch noch während Rita Ennio in die Erde denkt, steigt er schnarchend zurück ins Leben: der Betthügel bewegt sich, sein Fuß bohrt sich neben Stiefmütterchen und Chrysantemen ins Freie. Eine Vase kippt, eine Kerze hört auf zu flackern.

Als Rita auf Zehenspitzen das Haus verläßt, ist es bereits dunkel. Sie biegt in die falsche Gasse, sieht sich um: Unter dem Licht eines Hauseingangs machen sich Katzen über den Müll her, aufgerissene Säcke säumen ihren Weg. Wenig später steht sie vor der Bar, sucht die Umrisse eines Körpers vor der Theke. Allein würde sie das Lokal niemals betreten, wäre sie den Blicken nicht gewachsen. Da sie Schritte hört, wendet sie den Kopf in Richtung einer Sackgasse und wühlt in der Tasche. Zur verabredeten Zeit quietscht die Tür, sie geht ein paar Schritte vor, er folgt ihr, ohne sie anzusprechen. Wer hinter ihm nachkommt, sieht Ritas Beine zwischen den seinen, sein riesiger Schatten scheint sie von hinten einzufangen, seine kräftigen Schritte bestimmen ihre Gehgeschwindigkeit. Die Stufen der letzten Brücke nimmt er in wenigen Sätzen und bringt sie so aus dem Rhythmus. Sie hat die Nische des Sotoportego kaum erreicht, da hängt sein Gesicht schon über ihr, sein Griff ist sein Gruß. Er holt einen Schlüsselbund aus der Hosentasche, hält ihn schüttelnd vor ihr Ohr und fordert sie auf, ihm nachzugehen.

Der Pächter ist ein Kunde meines Mannes, sagt Rita. Sie findet den Ort geschmacklos, fügt hinzu, er erinnere sie an Ennio, alle hier verspeisten Fische seien auf seinem Boot, in diesem schwimmenden Schlachthaus zugrundegegangen. Noch während sie spricht, ihre Augen hinter der verglasten Kühlschranktür nach Fischleibern suchen, drückt er sich an sie. Ihr Blick bleibt an den längst verendeten Heuschreckenkrebsen hängen.
Zuhause, denkt sie, schießen jetzt die Beregnungsanlagen Waalwasser über die Felder, jeden zweiten Montag des Monats steht die Hasenwiese oberhalb des Dorfes unter Wasser. Hier wird der Efeu gelb und der Schnittlauch will erst gar nicht wachsen. Auf der Hasenwiese bin ich das erste Mal geküßt worden, die fertige Liebe im Kopf, an der ich auch später alles maß. Später schlugen die Golden Delicious über Martins Auto zusammen, und mit derselben Rücksichtslosigkeit, mit der er das Vaterauto auf den holprigen Traktorenspuren in die Apfelwiese manövrierte, fuhr er zwischen meine Beine. Nachdem er gekommen war, kramte er ein Papiertaschentuch zwischen den Straßenkarten aus dem Handschuhfach und putzte am Ledersitz herum.
Aldo schiebt die Brotkörbchen zur Seite, fällt wortlos auf Rita. Sie ist erschrocken vor ihren eigenen Bewegungen, kommt ihm entgegen, statt sich von ihm wegzudrehen, spielt mit, hält sich hin. Auf dem Heimweg zappeln die Krebse vor ihren Augen, und was von ihm noch da ist, rinnt warm an den Beinen herunter.

Rita tut mehrere Arbeiten gleichzeitig. Weil sie überall zugleich ist, weiß sie nicht mehr, wo ihr der Kopf steht. Sie ist so schlecht organisiert, daß sie in Zeitnot gerät. Gleich schließen die Geschäfte, und sie hat noch nicht eingekauft. Es kommt ein Gewitter, aber die Wäsche hängt ungeschützt im Freien. Sie weiß, was zu tun ist, damit sie zumindest zeitweilig vor sich selbst wichtig erscheint, wie die anderen keine Zeit hat, wie die anderen beschäftigt ist. Nicht das, was sie tun möchte, nimmt sie in Anspruch, sondern das, was sie für andere tun kann. Sie bekocht Ennio, öffnet die Tür, wenn er nach Hause kommt. Sie faltet den Pyjama und legt ihn unter das Kopfkissen. Abends schlägt sie die Decke zurück. Gegenstände, die nicht ins Auge fallen, verrückt sie so, daß sie stören: sie stellt eine Vase mit Dahlien auf den Nachttisch, legt die Wäsche ins Waschbecken. Manchmal wirft sie wichtige Zettel weg oder frischen Fisch, trägt Anzüge unaufgefordert in die Reinigung, bringt alles in eine neue Ordnung. Dieser nur für Rita übersichtliche Zustand ist für Ennio unerträglich. Das Unvorhergesehene ist ihre Waffe, so macht sie auf sich aufmerksam; und sind es auch nur Unmutsäußerungen: sie wird angegriffen, sie ist.

Als Rita Ennio die Treppen heraufkommen hört, wirft sie die Nudeln ins Wasser. Er setzt sich an den Tisch, ohne sie zu grüßen. Sein Hemdkragen zeigt Schweißränder, wenn er seinen Kopf neigt, sein Hals vibriert, als er zu sprechen beginnt. Wo ist das Salz? Da sie ihm nicht sofort den Salzstreuer reicht, schreit er sie an. Ihr wird klar, daß er weiß, daß jemand etwas gesehen haben muß. Er nimmt den Salzbehälter, schüttet den Inhalt über die Schultern nach hinten. Mitten im Essen, während ihre Augen den Nudeln folgen, die ihm von der Gabel rutschen, befiehlt er ihr, sich die Schuhe anzuziehen. Geh mir aus den Augen, sagt er. Und: Warte draußen auf mich, bis ich fertig bin.

2

Jeden Mittag dieselbe Runde: Maresch nimmt den KURIER vom Stapel, legt zehn Schilling auf den Tisch, bedankt sich nicht, sagt nie: guten Tag, auf Wiedersehen. Kein Handschlag, kein Zunicken, nicht einmal ein Blick; dann aber Begrüßungs- und Abschiedsküsse auf beide Wangen, wenn Simonitsch das Restaurant betritt. Man küßt, wen man für salonfähig hält. Er taucht das Frankfurterwürstchen in den Senf und nimmt mich wieder einmal zum Anlaß, um von Italien zu schwärmen. Alle lieben sie Italien, vielmehr was sie für Italien halten: die Toskana, Venedig, das kaltgepreßte Olivenöl, den Segafredo. Wenn ich eine Melange bestelle, schütteln sie den Kopf.
Ob ich von Rita. Ich lenke ab, Denzel kommt zu Hilfe, setzt sich, schnorrt eine Zigarette. Er raucht ununterbrochen, als müsse er sich mit jedem Feuerzeug, das er sucht, mit jedem Anzünden, zusätzliche Fristen schaffen, kurze Überlegungspausen. Er gähnt nie, bricht nie in Gelächter aus, verliert nicht die Beherrschung, auch wenn man seine Artikel kritisiert, ablehnt.
Ich möchte mich auf die schmale Bank legen, die Hände hinter dem Nacken verschränkt, die Beine ausgestreckt.
Wie sag` ich`s ihnen, daß ich heute früher weggehe. Redigieren kann Denzel auch, so lernt er schneller, was er in Zukunft zu unterlassen hat. Pucher nannte ihn gestern einen "Analphabeten der Zeitungssprache", weil er den Euphemismen-Jargon noch nicht beherrscht. Er schrieb tatsächlich "Bombenabwurf" anstelle von "militärische Operation". Man schleust ihn durch alle Büros, damit er die Tabus kennenlernt, er aber bewahrt sich aus Naivität oder Starrköpfigkeit - ich durchschau ihn nicht - seine Spontaneität, schlägt in seinen Berichten wild um sich und schweigt schließlich, wenn der Ressort-Leiter erst stirnrunzelnd freundlich, dann laut die Gefährlichkeiten seiner Sprache erläutert.
Simonitsch steht auf, trägt wieder einmal schwarze Netzstrümpfe und ein Kleid, das knapp unterm Hintern endet. Maresch versucht ihr senfverschmiert schöne Augen zu machen. Beide haben im Gegensatz zu Denzel längst verstanden, daß Journalismus eine Möglichkeit ist, den Lebensunterhalt zu verdienen, so wie Würstchenverkaufen oder Erdäpfelrösten. An großartige Neuerungen innerhalb ihrer Abteilungen ist nicht mehr zu denken. Nur die dummen Denzels glauben noch, sich austoben zu können.
Hör zu, ich hab` eine Verabredung. Simonitsch dreht sich sofort um, kehrt zu unserem Tisch zurück, legt kollegial eine Hand auf Denzels Schulter und grinst mich an.

3

Ennio überquert den Campo S. Giovanni e Paolo, dreht sich immer wieder nach Rita um, treibt sie an. Sie stöckelt schweigsam hinter ihm her, geht, als wäre sie es nicht gewohnt, Absätze zu tragen: bei jedem Schritt knicken die Knie ein, das Becken kippt nach vorne, gleichzeitig fällt der Oberkörper nach hinten, um durch Gewichtsverlagerung ein Nachvornesinken auszugleichen. Sie balanciert, gerät ins Stolpern, als sie nach den Fondamenta Dandolo eine kleine Brücke erreichen, unter ihnen das schmutzig-trübe Wasser. Warum gehe ich hinter ihm her, fragt sich Rita, er ist nicht betrunken genug. Mein schlechtes Gewissen schüchtert mich ein. Wenn ich Angst habe, ist das Glück immer woanders oder es kehrt dorthin zurück, wo ich lange Zeit mein Unglück vermutete. Ich könnte die Koffer packen, dem Wasser den Rücken kehren. Seine Mutter fände sich bestätigt.
Vor dem Fahrkartenschalter an der Anlegestelle Rialto steht eine Schlange wartender Japaner. Rita macht sich einen Spaß daraus, ihnen von hinten kommend in die Kamera zu laufen. Sie stellt sich vor, wie ihr Kopf auf einem Bildschirm in Tokio oder Osaka auftaucht, ein diffuses Braun zwischen weißem Brückenmarmor und Marktgewimmel.
Ohne eine Erklärung zu verlangen, steigt sie hinter Ennio in die 1-er Linie, folgt ihm trotz Schwüle in das Innere des Schiffes. Sie unterdrückt ihre Unruhe, indem sie vor jeder Anlegestelle die Zahl derer zu erraten versucht, die das Schiff verlassen werden. Ennio macht bis zur Endstation keine Anstalten auszusteigen.


Auf dem Lido, vor den billig hochgezogenen Sommerhäusern, springt Ennio in ein Taxi, wieder wortlos, wieder den Befehlsblick, der keine Widerrede duldet, auf Rita gerichtet. Via A. Manuzio, sagt er knapp und blättert in einem Werbeprospekt, das er beim Einsteigen vom Rücksitz aufgehoben hatte. Wohin, würde sie ihn am liebsten anschreien, doch weil sie hofft, diese außergewöhnliche Taxifahrt würde alltäglich enden, und ihr Verdacht, er wisse, könnte sich als Irrtum herausstellen, hält sie sich zurück, um seinen Argwohn nicht durch Ungeduld zu bestätigen.
Aldo, erinnert sie sich den weißen Punkten folgend, hat das vorletzte Mal von den verschiedenen Möwen gesprochen, von den Lach-, Fisch- und Speckmöwen, doch die Unterschiede hat sie aus dem Gedächtnis verloren, stattdessen muß sie an Ennio denken: Als Kind ist er zum Möwenauffädeln aufs Meer hinausgefahren. Er und seine Freunde haben Fischgedärme an Anglerhaken befestigt und ausgeworfen, haben gewartet, bis die Möwen anbissen, um dann den Motor zu starten und loszubrausen. Durch den abrupten Start hätten sich die Meervögel an den Haken aufgespießt, seien aus dem Wasser gezogen worden und am Ende mit steigender Geschwindigkeit immer höher über dem Boot geflattert. Die Möwen hätten an den Schnüren so hoch über ihnen wie lebende Luftballons ausgesehen und seien dann bei abgestelltem Motor mit blutigen Schnäbeln wieder zurück ins Meer gesunken.
Was will er in der Via A. Manuzio, fragt sie sich und mustert ihn von der Seite. Ennio hat das Prospekt zusammengelegt, dreht es zwischen den Fingern hin und her. An seinem Gesicht ist nichts abzulesen. Als hinter den Häusern von S. Nicolo` die hohen Bäume des jüdischen Friedhofs auftauchen, befiehlt er dem Taxifahrer anzuhalten und zu warten. Rita geht um das Heck herum, bleibt hinter dem Kofferraum stehen. Erklär mir, setzt sie an, doch Ennio holt aus, schlägt ihr die Hand mitten ins Gesicht. Sie weicht zurück, stolpert, kippt aus den Schuhen. Nichts werde ich dir erklären. Dort, und er zeigt mit der Hand auf ein Haus, ist dein Platz; bleib`, wo du hingehörst.
Noch bevor Rita den Mund aufmachen kann, hört sie, wie die Wagentür ins Schloß fällt, der Standgassummton in lautes Brummen übergeht. Mit einem Auge sieht sie die Motorhaube auf die Fahrspur einbiegen, das andere sucht bereits erschrocken und beschämt nach etwaigen Zeugen. Gesehen hat sie niemand. Hinter dem nächsten Gartenzaun läuft ein Hund auf und ab, ohne zu bellen. Die meisten Rollos hat man zum Schutz gegen die Nachmittagshitze heruntergelassen.
Rita biegt in die Straße ein, geht, die Lagune im Rücken, den Kanal entlang zum offenen Meer.
Wenig später sitzt sie auf der Höhe des Krankenhauses am Strand. Sie zieht die Schuhe aus, streift den Ring vom Finger und legt ihn in den Münzbeutel.
Als Onkel Viktor abends nicht nach Hause kam, hat Tante Anna gestrickt. Sie hat geschwiegen und gestrickt. Sie hat alles, was sie nicht aus sich herausbrachte, nicht aus sich herausbringen durfte, in ihre Töchter hineingestrickt. Jahrelang saßen sie zu den Essenszeiten auf der Eckbank zwischen halbfertigen Ärmeln, Vorder- und Rückenteilen. Jahrelang hat sie über Onkel Viktors Fremdgehen hinweggesehen, hat halblaut die Maschen gezählt, eine glatte, eine verkehrte und wieder eine glatte, eine verkehrte, um nicht die Frauen zählen zu müssen. Sie hat ihnen die melierte Wolle über Arme und Beine gezogen als stünde ihre Haut stellvertretend für die Haut ihrer Gegenspielerinnen. Sie hat nie geantwortet, wenn sie wissen wollten. Und sie gaben sich mit den Mutmaßungen, mit dem Wahrscheinlichen zufrieden.
Als ich das letzte Mal oben war, grünten die Wiesen und die Dächer hingen in der Verlängerung der Schatten in die Häuser. Die aufgetürmten Erdhügel waren noch zu verteilen, auszustreuen auf den Feldern zwischen Strommasten und vereinzelt dastehenden, immer noch dürren Bäumen.
Rita hält ein Papiertaschentuch in der Hand, beißt die Ecken ab und kaut so lange am weichen Papierknäuel herum, bis sie ihn als harte Kugel ins Meer spucken kann. Sie sieht, wie sich die Flut allmählich zurückzieht, der Schlick im Watt versinkt. Dann stellt sie sich knöcheltief ins schwappende Wasser und fischt mit der großen Zehe Muschelschalen heraus.
In Paris strichen wir uns die Schokolade der Eclairs auf den Bauch, schleckten sie wieder herunter. Lange Zeit hielt mich, was längst unmöglich geworden war; so leicht läßt sich die Hoffnung auf Wiederholung mit Liebe verwechseln. Ich will ein Sieb in meinem Kopf und Gras, überall Gras statt des Wassers.
Ein Kind schleift einen Klappstuhl durch den Sand, sucht mit den Augen seine Eltern, um herauszubekommen, ob sie dieses Spiel gutheißen. Begleitet von den Rufen der Mutter stapft Rita zur Toilette. In Grätschstellung, ohne sich auf die Brille zu setzen, hört sie, wie das Wasser aus ihr herausrinnt, erst tröpfelnd, dann in einem kräftigen Strahl, der schlecht gezielt vom Beckenrand an ihr hochspritzt, was sie spätestens, als sie merkt daß das Papier fehlt, wütend macht. Fluchend stößt sie bei Verlassen des Wcs gleich zweimal mit dem Fuß gegen die Tür und zieht den verdutzten Blick eines Liegestuhlherrn auf sich. Zwischen den Kabinen dreht sie sich noch einmal zum Wasser, zum Meer- und Himmelblau, dieses Mal ohne Horizontlinie, als stülpe sich das Meer in einer Riesenwelle über die Erde.


Am Anfang, denkt Rita, hatte ich noch den Wunsch zu fliehen, weil ich dann hoffen konnte, er würde mich vermissen, er würde nach mir suchen lassen. Indem ich fortginge, so glaubte ich, würde ich ihn ernüchtern; ein Sehnsüchtiger sei gezwungen, ins Leben zurückzukehren. Ennio kehrte nicht zurück, war nicht mehr da, nur die Spuren von ihm an den Dingen: aus dem Mülleimer schauten die Flaschenhälse heraus, Brotkrumen lagen auf dem Tisch, Zigarettenstummel neben dem Aschenbecher. Er verfehlte die Türklinke, wenn er ins Bad wollte, beschmierte sich das Hemd beim Essen. Einmal fiel er vornüber auf den Steinboden des Korridors. Ich schämte mich, in der Metzgerei gegenüber Hilfe zu holen und setzte mich auf einen Stuhl an sein Kopfende, bis er wieder aufstand, auf allen Vieren zur Garderobe kroch, um sich an ihr hochzuziehen. Ohne Mitleid stierte ich auf den Brustkorb, der sich gleichmäßig hob und senkte, wünschte ihn ins Wasser oder erschlagen auf dem von Schleim und Fischkadavern übersäten Steinboden am Fischmarkt.
Er stand immer wieder auf, stolperte durch die Wohnung, beladen mit Vorwürfen und zornig keuchend, daß ich an seiner Misere schuld sei, weil ich mich weigerte, am Stand zu stehen, Fische auszunehmen, sie mit der Säge zu zerkleinern. Es wollte eben kein Kind kommen, und je länger keins kam, desto mehr hing er sich an die Flasche, hält er an seinen Fischen fest, schöpft aus dem Meer, um dann auf dem Markt zu schreien, aus seiner nicht fortgesetzten Existenz heraus in die Frauen hinein, ihren Bäuchen zu. Dort schreit er noch immer, um das Geschöpfte loszuwerden, um sich fortzupflanzen mit seinen Meerspinnen und Teufelsschwänzen in den Leibern der anderen.
Mit den Jahren und den Litern verlor er seine Redegewandtheit, die ich so sehr an ihm liebte, sprach nicht mehr pausenlos, gleichgültig von wem, gleichgültig worüber, trampelte langsamer, bis er gänzlich stillhielt und nur noch in klaren Momenten von sich erzählte, vom Verkauf, der zurückgegangen war, von der Mutter, die er schon seit Jahren sterben ließ, die er trotz seiner überschwenglichen Liebe gerne auf die Toteninsel brächte, weil er vor ihr Haltung bewahren mußte, was ihm während der sonntäglichen Zusammenkünfte immer schwerer fiel. Haltung bewahrte er auch vor Anton, wenn dieser aus Wien zu Besuch kam und zum Essen statt des Malbek Wasser auf den Tisch stellte, absichtlich, um ihn in Unruhe zu versetzen und aus dem Haus zu jagen. Dann lief er unter dem Vorwand, er müsse zu einem Kunden, die Calle Barbaria de le Tole hinauf, geradewegs in die Osteria al Balon, stürzte an der Theke ein erstes Glas Wein hinunter und setzte sich anschließend an einen der Tische, an denen den ganzen Tag über Karten gespielt wird. Vielleicht sitzt er jetzt dort, zwischen den Alten, die täglich aus dem Heim herüberkommen, nur mehr die Gasse überqueren, um in ihrem Stammlokal je nach Verfassung als Laufburschen, Hilfskellner oder Spieler ihre letzten Jahre zuzubringen.
Rita wechselt die Straßenseite, kreuzt die Kellner, die wie jeden Abend vor den Restaurants auf und ab gehen oder breitbeinig, die Hände auf dem Rücken verschränkt, vor den Vitrinen stehen, um touristische Strandgänger abzufangen.
Ennio wird mich erwarten, denkt Rita. Er wird in der Küche sitzen und Kaffee mit Schnaps trinken, um nicht einzuschlafen. Er wird einen Zahnstocher ins Tischtuch stechen, wird aufstehen und zum Fenster gehen, ohne einen Blick nach draußen zu werfen. Oder sie bringen ihn mir. Die Übriggebliebenen und weniger Betrunkenen tragen ihn mir nach Hause, klopfen seine Jacke aus, reden ihm zu. Die Übriggebliebenen schieben ihn mir durch die Tür und torkeln müde heimwärts.

Zwing' mich jetzt nicht zu sprechen, sagt Rita zu Anton, stell' mir keine Fragen, was gibt es noch zu erzählen, was du nicht schon wüßtest. Hinter meinem Rücken pfeift ein Mann und wartet darauf, daß ich den Hörer auflege. Es war doch alles ein dem Endezudenken, es war ein Endeherbeidenken, und die Kränkungen und Versäumnisse führten bereits über das Ende hinaus.
Vorgestern sei sie ein letztes Mal zum Stand gegangen und habe Ennio eine Liste von Bestellungen vorbeigebracht, ein letztes Mal, wiederholt Rita, nun würde ihr das alles erspart bleiben: kein Marktgeschrei mehr, keine Arme, die immerzu in ruckartigen Bewegungen Fische auf die Waage warfen, keine in die Metallschalen klatschenden Fischleiber. Sie werde endlich Zeitungen kaufen, sie lesen und anschließend wegschmeißen können, ohne daran denken zu müssen, wieviel Kilo Seezungen und Miesmuscheln sich darin hätten einpacken lassen. Stell' dir vor, bis zuletzt weigerte er sich, wasserdichtes Verpackungsmaterial anzuschaffen, bis zuletzt näßte das Meeresgetier die Zeitungsseiten, stießen Flossen, Schwänze und Mäuler durch das aufgeweichte Papier.
Was machst du jetzt? Hörst du mich? Ein vorbeifahrender Lastwagen verschluckt Antons Antwort. Der wartende Mann steigt von einem Fuß zum andern. Um diese Zeit, sagt Rita, kommen die Soldaten aus den Kasernen hierher und besetzen sämtliche Apparate. Je frustrierender ihre Tage, desto heißer ihr Liebesgeflüster, desto lauter ihre Forderungen nach Treuegelöbnissen. Nach dem Anruf revanchieren sie sich bei ihren Freundinnen für ihr Mißtrauen, indem sie sich in einen Pornofilm setzen oder zu den Prostituierten nach Mestre fahren.
Erzähl' Vater nichts, sagt Rita, erzähl' ihm nicht, daß ich nach Wien komme. Ich gönn' ihm die Genugtuung nicht, ich gönn' ihm nicht, daß eintrifft, was er mir hinterhergeschrien hat.
Auf dem Granviale stauen sich die Autos, wie auf Befehl pflanzen sich die Bremslichter rückwärts fort, erlöschen, leuchten auf. Kurz vor der Anlegestelle bleibt Rita noch einmal stehen und schaut zurück. Hier, auf der Autoinsel, abseits von den wasserumspülten Palästen, suchte sie vom ersten Tag an das Gewöhnliche, lief zwischen den Einfamilienhäusern herum und wurde erst ruhig, wenn sie jemanden entdeckte, der in seinem Garten den Kies harkte oder Rosenstöcke stutzte.
Wenig später, auf dem Deck des Schiffes, sind es die fernen Lichtpunkte der Riva degli Schiavoni, die durch den stärkeren Seegang auf und ab springen. Aus der Nähe sehen die Laternen - drei zu einem Dreieck angeordnete Lampen - wie startbereite Lokomotiven aus. Im Winter, erinnert sich Rita, bin ich zum Strand gefahren, weil die Muschelsplitter unter den Sohlen knirschen wie hartgefrorener Schnee. Von den Jahreszeiten ist hier nichts zu bemerken, nur Sommer und Winter sind spürbar als schwüle Hitze und feuchte Kälte. Die Zwischenzeiten sind ein Privileg der ummauerten Palastgärten; außerhalb begnügt man sich mit Orchideen in Plastikschachteln, mit einer Hand voll Grabblumen an den Ständen gegenüber von San Michele.
Rita sucht Gesichter und denkt an Aldo: wie er die Osteria verließ, wortlos und zufrieden, als wäre er nur dort gewesen, um etwas zu holen, Gläser für ein Fest zum Beispiel oder ein paar Flaschen Wein; wie er beim Hinausgehen einen Buranello aus dem Glasbehälter fischte, ihn in der Hosentasche verschwinden ließ; wie er vor dem erblindeten Spiegel im hinteren Raum des Lokals die wenigen Haare aus der Stirn strich und schließlich die Mütze aufsetzte. Er sagte lediglich: Gehen wir.