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Sabine Gruber
Berührungen mit Robert Walser
Schneefeld und Schlachtfeld
Wir hatten auch Bücher geteilt und literarische Vorlieben. Robert Walser
gehörte zu den Autoren, dessen Texte wir gemeinsam lesen wollten. Daß es mit
einer einzigen Ausnahme nicht mehr dazu kam, hing mit unseren
unterschiedlichen Berufs- und Lebensentscheidungen zusammen, dann mit seinem
frühzeitigen Tod (1999) als Reporter auf dem Balkan.
Zu meinem fünfundzwanzigsten Geburtstag schenkte mir ein gemeinsamer Freund
die Taschenbuchausgabe von Walsers Träume. Da saßen wir noch zu dritt am
Tisch, und er las den Eröffnungstext Kleiner Streifzug, der mit dem Satz
endet: „Nachdenklich, fast glücklich, ging ich heim.“ An diesem Satz hielt
er fest, er zitierte ihn immer wieder, wie er Bernhard- und Kafka-Sätze
auswendig wiedergeben konnte.
Ich besitze ein Schwarz-Weiß-Photo, das aus einer Zeit stammt, wo wir uns
noch nicht gekannt hatten; er schenkte es mir 1982, in unserem ersten Jahr.
Es ist nicht größer als 10x10 cm. Er läuft auf einem Schneefeld, man sieht
ihn von hinten, im knielangen Mantel, der Schal umflattert die Schulter.
Seine Gestalt bewegt sich auf den linken, oberen Bildrand zu. Ein Fuß
versinkt im Schnee, den anderen zieht er heraus; Sohle und Hosenbeine sind
beinahe weiß wie der gesamte Hintergrund, auf dem keine Landschaft zu sehen
ist, nichts, nur Winter, ein Feld, das nicht mehr als solches erkennbar ist.
Einzig die Spuren, die seine Tritte hinterlassen haben, sind bei genauerem
Hinsehen wahrnehmbar: die Grobkörnigkeit der Photographie verdichtet sich in
seinen Fußstapfen.
Jahrelang hat mich das Photo an eine Einstellung einer frühen Verfilmung von
Kafkas Schloß erinnert, bis ich Walser zu lesen begann.
Dann sah ich Walser erfroren im Schneefeld liegen. Von da an war Walsers
Feld untrennbar mit dem Weiß jener Photographie verbunden. „Mir gefällt der
Gedanke, das Feld, worauf er fiel, habe die weiße Glätte von Schreibpapier
aufgewiesen“, lese ich bei William Gass[1].
Wo der eine, der Dichter, in der Kälte des weißen Feldes zum letzten Wort
erstarrt, „unnachdrücklich, fast unlesbar, mit verkrampfter Hand auf engstem
Raum zusammengedrückt“
[2], wird der Tod des anderen vor die mediale
Öffentlichkeit gezerrt. Vor den Sudelblättern und Fortschreibungen, die ich
nie gelesen habe, nie lesen werde, habe ich mich in seine kleine
Photographie gerettet: nachdenklich, fast glücklich, gehe ich ins Bild: dort
läuft der Tote, läuft ins weiße Papier, ins Nichtbeschriftbare.
Realität und Fiktion
„(der Schriftsteller) ahnt Dinge, über die seine Majestät der Kaiser selber
sogar hinwegsieht. Er hat Wegweiser im Kopf mit auf diese Erde bekommen, und
diese deuten ihm immer die Richtung an, wo einer in Gedanken hinlaufen muß,
wenn er das Ahnungsvolle und das beinah schon Unfaßbare schauen soll. “
[3]
Walsers Figur Sebastian, der unglückliche Dichter in dem Roman
Geschwister
Tanner, wird von Simon auf einer Waldwanderung erfroren aufgefunden. In
meinem Roman Aushäusige
[4] stirbt der Kriegsreporter Denzel auf dem Balkan,
erschossen von einem serbischen Heckenschützen. Paul Auster erzählt in
seinem letzten Roman Nacht des Orakels die Geschichte von einem
französischen Schriftsteller, der in einem epischen Gedicht den
Ertrinkungstod eines kleinen Mädchens geschildert hatte; zwei Monate nach
Erscheinen des Buches ertrank die fünfjährige Tochter des französischen
Autors im Ärmelkanal. Der Schriftsteller schwor sich, nie wieder zu
schreiben, weil er glaubte, die fiktive Tragödie habe die reale ausgelöst. Austers Ich-Erzähler Sid, ebenfalls ein Schriftsteller, ist überzeugt, daß
es zwischen Realität und Phantasie keinen Zusammenhang gebe, anders sein
Widerpart John: „Gedanken sind etwas Reales (...), Worte sind etwas Reales.
Alles Menschliche ist real, und manchmal wissen wir Dinge, bevor sie
passieren, auch wenn wir uns dessen nicht bewusst sind. Wir leben in der
Gegenwart, aber die Zukunft ist in jedem Augenblick in uns. Vielleicht geht
es beim Schreiben nur darum, Sid. Nicht Ereignisse der Vergangenheit
aufzuzeichnen, sondern Dinge in der Zukunft geschehen zu lassen.“
[5]
Robert Walser holt die Zukunft als ständige Hoffnung in die Gegenwart
herein, selbst wenn wenig oder gar keine Aussicht auf Glück besteht und der
grausame Zufall bereits auf seine Gelegenheit wartet.
Walsers wandernden Figuren fehlt jedes Sendungsbewußtsein, jede Lust am
historischen Referieren; sie hoffen auf eine Begegnung, auf ein Lächeln,
darauf, daß sich ihre Phantasien verwirklichen; sie geben sich ihren
Wünschen und Projektionen hin, übertragen oftmals die Realisierung der
Träume den angebeteten Frauen. Selbst das Heim, als mögliches Ziel der
Rückkehr, erweist sich für die Wandernden als Sehnsuchts- und Hoffnungsort.
Der Spaziergang, auch Gedankenspazierung und Spaziergang durch die Bücher
anderer Autoren, ist Anregung und Inspiration und immer auch Hinschauen auf
die Ferne, die Zukunft, den Tod.
Papier und Bleistift
„(Der Schrifsteller) ist mit sich jedes Mal fertig, wenn er das erste Wort
schreibt, und wenn er den ersten Satz geformt hat, kennt er sich nicht
mehr.“
[6]
Mein Großvater mütterlicherseits trug einen roten, abgeflachten
Zimmermannsbleistift hinter dem Ohr. Mit diesem Stift, den er mit einem
Taschenmesser, das auch zum Speckschneiden diente, grob auf vier Seiten
zuspitzte, markierte er als Maurer und späterer Bauunternehmer Wände und
Verschalungsbretter, zuweilen schrieb er sich Telephonnummern oder Termine
auf. Mit Speichel versetzt, wurde der Schriftzug/die Markierungsstelle
dicker.
Die Zimmermannsbleistifte lagen auf den Stellagen in der Garage zwischen
angebrochenen Zementsäcken, Kellen, Meterstäben und anderem Werkzeug, sie
fanden sich aber auch im Wohnzimmer in der Lade neben dem Tabak und in der
Küche auf Großmutters Lebensmittel-Waage. Selbst die kürzesten unter ihnen,
die stumpf waren und daher unbenutzt blieben, weil sich an ihnen keine
Schnitzbewegungen mehr ausführen ließen, ohne daß sich Großvater mit der
Klinge seines Taschenmessers verletzt hätte, wurden nicht weggeschmissen.
Vielleicht waren sie wie das andere alte Werkzeug, das Großvater hortete:
der herumliegende Beweis für die getane Arbeit. Der Zimmermannsbleistift
hatte noch eine andere Funktion: mit ihm wurde am Türstock zum Wohnzimmer
der Großeltern das Heranwachsen der Enkelkinder verzeichnet. Die
aufeinanderfolgenden Maßstriche und zunehmenden Initialen waren untrügliche
Zeitzeichen.
Meine Großmutter väterlicherseits stand hinter dem Ladentisch, auf dem
Zeitungen, Rätselhefte, billige Romane und Magazine ausgebreitet waren.
Dahinter, auf dem vom Tischler gefertigten grau lackierten Regal lagen
geordnet nach Größe und Dicke, liniierte und karierte Schreibblöcke und
Hefte, allerlei Büroutensilien wie Federn, Kugelschreiber und nach
Härtegraden und Marken geordnet: Bleistifte. Auf einem Stehpult, das im
Durchgang zum hinteren Geschäftsraum plaziert war, in dem Anfang Oktober die
Schulbücher verkauft wurden, befand sich das neueste Modell einer
Spitzmaschine, von der ich als kleines Mädchen derart angetan war, daß man
mich nach zahlreichen bis zum Stummel heruntergespitzten Bleistiften dazu
anhielt, wieder den ordinären Handspitzer aus der Griffelschachtel zu
verwenden. Die Maschine, die mit einem Klemmbügel am Pult befestigt war,
verlor jeden Reiz, da ich zwar kurbeln, aber die Fräswalze nicht mehr mit
Bleistiften füttern durfte.
Aus der Buchbinderei und Druckerei des Großvaters war es mir erlaubt,
Verschnittreste und Papierabfälle nach Hause zu nehmen. Später waren es
einzelne Lettern aus Blei, die der Vater als gelernter Schriftsetzer zum
Spielen brachte.
Von Anfang an kannte ich keinen Mangel, und dennoch: war der Bleistift noch
Material, jederzeit ersetzbar und verfügbar, wurde die Füllfeder zum
kostbaren und damit belastenden Besitz. Mein Verhältnis zu ihr ist bis heute
von Mißgeschicken und kleinen Unglücksfällen geprägt. Die Federn gingen
verloren oder sie fielen zu Boden, hatten Sprünge, klecksten, rannen,
trockneten ein. Weil ich als Kind zu viele Schreibfedern in zu kurzer Zeit
verbraucht hatte, wurden mir mehrere Füllfedern vom Taschengeld abgezogen.
Eingeschüchtert wich ich, wann immer ich konnte, auf Blei- und Filzstifte
oder den Biro aus, einem Kugelschreiber, der nach seinem ungarischen
Erfinder benannt ist.
Bis heute schreibe ich geprägt von frühkindlichen Materialerfahrungen mit
dem Bleistift oder mit billigen unpersönlichen Schreibutensilien. Kurze
Bleistifte, wie sie Walser in seiner Westentasche getragen haben soll, horte
ich nach großväterlicher Art.
Da Walser „mit der Feder einen wahren Zusammenbruch mit der Hand erlebte,
eine Art Krampf“ verlegte er sich auf das „Bleistifteln“. Dieses vorläufige,
spielerische Notieren vor der Reinschrift, setzt sich über die Angst vor der
Federschrift, ihrer Unabänderlichkeit hinweg. Vom „Schreibfedernüberdruss“
befreit, „(...) liess es sich mit Hülfe des Bleistifts“ – wie Walser in der
Neuen Schweizer Rundschau bekannte -, „wieder besser spielen, dichten
(...).“
[7]
Schreiben – ein spielerischer und kräfteraubender Vorgang, seit ich denken
kann: ich erinnere mich, wie ich die ersten Stöcke und Bälle auf die Zeile
gesetzt habe, mit Bleistift gemalt, die Zunge zwischen den Lippen, als
wollte sie, die anderswo auch „Sprache“ bedeutet, damals schon ankündigen,
daß sie dem Schreibfluß voraus ist. Immer habe ich dem Denken und dem
Sprechen hinterhergeschrieben; das, was sich nicht festhalten, nicht verschriftlichen ließ, ergab im besten Falle: Lakonie.
Walsers Texte erwecken den Anschein, als sparten sie nichts aus, als sei an
ihnen nichts verloren gegangen; sie sind Überfluß, Selbstvergeudung und
simulieren in ihrem Wörtlichnehmen der Welt Übereinstimmung zwischen dem,
der denkt oder spricht und dem, was geschrieben steht. Dem nichtaufhörenwollenden Wortschwall steht das Stocken, Zweifeln, Tröpfeln des
eigenen Schreibens entgegen.
Mit der Spitzmaschine im Geschäft meiner Großmutter hatte ich die ersten
ungeschriebenen Bücher produziert: in den Holzkringeln haftete der
Wortstaub, setzte sich in den Poren der Fingerspitzen fest (Schau jetzt
deine Finger an!) und war erst nach heftigem Händewaschen wieder
verschwunden. Tintenspuren und Graphitstaub an der eigenen Haut und am
eigenen Kleid wurden zu Synoymen potentiellen Gelingens und damit immer auch
zu Synoymen möglichen Glücks.
Gehen und Sehen
„Jeder sehe zu sich selber und marschiere auf seinem verborgensten eigenen
Weg.“
[8]
Das Schreiben führt mich in mich hinein, aber nicht mehr aus mir heraus. Ich
gehe jeden Tag neu in mich, und jeden Tag neu sitze ich in mir und finde
keinen Ausgang. Die Suchtrupps, die ich dann losschicke, um nach gehbaren
Wegen Ausschau zu halten, sind meine Figuren. Ihr Name ist oft „Ich“, aber
ich kann mich darin nie erkennen, kann mich nicht aus mir herausführen, bin
wohl zu tief in mir verborgen. Ich schicke die aus, von denen ich sicher
sein kann, daß sie mich nicht verraten, daß sie nur andeuten. Was dazwischen
ist, zwischen mir und ihnen – Luft, Leerzeilen - ist Stoff in den Köpfen
derer, die zu lesen verstehen.
Walsers Texte vermitteln den Eindruck, als suche er nicht. Er wirft sich
aus, ist in seinem Blick oder in dem, was er hört; gibt wieder, was er
sieht, was sein Ohr erreicht. Am liebsten zerstreut er sich im Wald, wie im
Märchen.
Manchmal geht er weiter, schreibt in einem fort, nicht um zu einem
literarischen Ergebnis zu kommen, sondern um das Schreiben als solches nicht
abbrechen zu lassen. Die reglementierten Formen des Märchens brechen auf;
die dominanten, bekannten Märchentextteile werden aus dem erwartbaren
Zusammenhang herausgelöst und anderswo einmontiert. Die Figuren, im Märchen
noch moralisch handelnd, sind plötzlich ohne Orientierung. Der Sinn
versteckt sich hinter klischierten, überholten und letztlich austauschbaren
Versatzstücken.
Walser geht nicht nur, sondern springt von einem Einfall zum nächsten. Wer
ihm folgt, kommt leicht aus dem Schritt, denn geradeaus geht es nie; wer
glaubt, es ginge sich jetzt ruhig dahin, wird nach wenigen Sätzen stolpern,
stürzen.
Vielleicht kann ich mich deswegen oft nicht mehr an seine Skizzen und
Kurzerzählungen erinnern. Im Gegensatz zu anderen Texten, die auf
Nimmer-Wiedererzählen aus dem Gedächtnis verschwinden, die aber
„unverrückbar, unaussprechlich bei mir“
[9] sind, obwohl ich sie verschlungen
und vergessen habe, widersetzt sich Walsers Prosa einem schnellen und
systematischen Lesen. Die Hingabe an den Text, das intransitive Vergessen,
das nichts mit dem schmachvollen Etwas-Vergessen zu tun hat, wie Leupold in
ihrem Buch Eden Plaza erläutert, wird gestört, da die Walser-Lektüre selbst
eine andere Art der Rezeption bedingt: so als ob sich das Zufallsprinzip,
dem viele Arbeiten Walsers unterworfen sind, auf die Leseweise übertrüge,
lassen sich auch seine Bücher (anders als die Bücher Kafkas oder
Dostojewskijs) nicht von Anfang bis zum Ende durchlesen. Die Abstecher ins
Bleistiftgebiet geraten zu kurzen oder längeren wundersamen Expeditionen,
die ich nicht selten staunend unterbreche, um anderntags an einer völlig
unbekannten Stelle einen neuen Einstieg zu suchen.
Letztlich verhindert die Natur als Landschaftsumrahmung
[10], daß die Figuren
ihre Fassung verlieren; sie ist die Konstante, stellt sofort schöne und
sanfte Bilder zur Verfügung, Flucht- und Vergessensorte. Als ruhiger
Gegenpol bietet sie Halt für die Rastlosen. Die oftmals stereotypen
Beschreibungen von Baum, Berg und See vermitteln Sicherheit, verwandeln die
Umgebung zu einem persönlichen Raum, der absehbar wird, körperlich
erfahrbar. Natur und Landschaft treten auch als Personen auf, versehen mit
Stimmen, Augen, Armen.
Immer wieder warten die Figuren, während sie gehen. Sie bewegen ihre Beine
und sind doch innerlich erstarrt. Sie gehen und sehen, um den Stillstand zu
unterbrechen, Angst zu überwinden. Der Zustand der Unruhe wird auf die
äußere Umgebung übertragen. Gefühle von Angst und Ohnmacht, die eben noch
die Figuren befallen hatten, zeigen sich an den Gegenständen. „Das Haus,
worin ich wohnte, zitterte vor mir. Alle schönen Zimmer erblaßten. Damit sie
sich wieder erholten, reiste ich ab.“
[11]
Walser leugnet die Angst nicht, indem er einen Teil seiner selbst ausläßt,
wie Elias Canetti in seinen Aufzeichnungen zu Walser vermerkte
[12], sondern er
projiziert sie. Sie ist nicht absent, sie wird verlagert und damit gebannt,
so lange er schreibt. Und sein Humor erscheint mir immer wieder wie die
verzweifelte Verkleidung seiner Angst. Löst sich das Textkleid auf, wird im
Fadenscheinigen das nackte Entsetzen sichtbar.
[12] Canetti,
Elias: Einige Aufzeichnungen zu Robert Walser In: Katharina Kerr (Hrsg.):
Über Robert Walser Frankfurt a. Main:
Suhrkamp 1978 S.12.
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