Sabine
Gruber
Blätter
Wenn es fällt, wird es für sie zur
Plage; sie bückt sich und steckt es in Säcke. Tag für Tag sehe
ich sie draußen vor ihrer Tür. Morgens schon, wenn ich mit
meinem Kaffee am Fenster stehe, durchstreift sie ihren Garten,
kriecht unter das Gebüsch und greift nach dem Laub, nach
Blättern von Straßenlinden und Platanen, die der Wind auf ihr
Grundstück geweht hat. Sie trägt Hauskleider, blaue und schwarze
Trainingshosen, den alten Anorak; manchmal hat sie es so eilig,
daß sie trotz Kälte nur dürftig bekleidet vor die Tür tritt: ich
kenne ihre Schürzen aus kleingemusterten Stoffen, die zu kurzen
Brustlätze und schmalen Oberteile, die für einen anderen Körper
gedacht waren.
Ihr Garten hat sich verwandelt; über die Jahre sind die
Obstbäume verschwunden, wurden Birnen- und Apfelbäume
herausgerissen, zersägt und geschichtet; sie hat sie durch
Koniferen ersetzt, denen man den Herbst nicht anmerkt.
Täglich zupft sie das Platanenlaub aus den Thujen, schüttelt die
Scheinzypressen, wischt mit der flachen Hand über die
nylonbedeckten Gartenmöbel. Sie beginnt immer rechts, schreitet
die Hecken ab, umrundet das Gartenhäuschen und verweilt auf der
Straßenseite ihres kaum mehr als hundert Quadratmeter
umfassenden Vorgartens, ohne einen Blick auf den Verkehr zu
werfen, auf Schulkinder oder Nachbarn, die an ihr vorbeigehen.
Seit kurzem benützt sie, um ihren Rücken zu schonen, einen
Skistock, mit dem sie ins Laub sticht, es aufgabelt.
Sie ist die erste in der Siedlung, die Blumenzwiebeln in die
Erde steckt und die Kübelpflanzen in den Keller schleppt. Auch
ihre Beete sind nackt. Wenn die Blätter wegen der frühen
Frostnächte binnen weniger Tage von den Bäumen fallen, bleibt
sie den ganzen Tag draußen; sie harkt ohne Pause, reißt die
Kapuzinerkresse von der Garagenwand, die an ihr Grundstück
grenzt, steigt auf den Zaun, um an den Ästen der Straßenbäume zu
rütteln.
Ich habe das Laub immer liegen lassen; es schützt den Boden vor
der eisigen Kälte, schirmt die empfindlichen Pflanzen ab, wenn
kein Schnee fällt. Ich bin nachts schon in ihren Garten
geschlichen und habe einen ihrer Säcke entwendet, um mit den
aufgesammelten Blättern meine Beete abzudecken.
Neuerdings hat sie sich einen Laubsauger angeschafft; er ist
laut wie ein Rasenmäher. Daß sich das Gras lichtet und
büschelweise mit den verwelkten Blättern im Saugrohr
verschwindet, scheint sie nicht zu bemerken, oder es ist ihr
gleichgültig. Der von schwarzen Erdflecken übersäte Rasen sieht
längst aus, als würden Kinder darauf Fußball spielen.
Ich bin schon so weit, daß ich auf den Kaffee vergesse, wenn ich
sie beobachte. Sie hat sich angewöhnt, ihre Gartenstiefel auf
der untersten Treppe stehenzulassen und in Socken über die
Steinplatten zu laufen. Vermutlich befürchtet sie, daß ihre
gestrickten Schlupfschuhe, mit denen sie bei trockenem Wetter
bis zum Briefkasten vorgeht, draußen feucht werden.
Seit Tagen sind keine gelben oder roten Flecken auf ihrem Rasen
zu sehen. Obwohl sie die Fenster verschlossen hält und nicht
hören kann, wenn der Wind in die Platanen fährt, weiß sie genau,
wann sie wieder rausmuß. Sie hat selbst die uneinsichtigen
Winkel ihres Gartens im Auge.
Ihre Gardinen sind immer aufgezogen, so weit, daß man meinen
könnte, sie hätte auf die Vorhänge verzichtet. Im Unterschied zu
mir scheint sie das Tageslicht nicht zu stören, auch im Sommer
nicht. Ich ziehe der grellen Sonne das Halbdunkel vor; es
glättet die Kanten und Linien meiner Möbel.
Vor ein paar Wochen bin ich in der Nacht aufgestanden und habe
eine Handvoll Blätter auf ihre Beete gestreut, weil ich diese
Gründlichkeit nicht mehr ertrage. Am Morgen war das Laub schon
entfernt, bevor ich den Kaffee aufsetzen konnte. Sie muß es noch
in der Nacht oder bei Einbruch der Dämmerung aufgesammelt haben.
Einmal habe ich sie dabei ertappt, wie sie auf das Garagendach
des Nachbarn gestiegen ist, um die dort liegengebliebenen
Blätter in eine Umhängtasche zu stopfen. Führten Treppen hinauf,
hätte sie gewiß den Laubsauger benützt, so aber brauchte sie
beide Hände, um auf den Zaun zu steigen und sich an der
Regenrinne hochzuziehen.
Manchmal träume ich davon, daß es die Blätter regnet, hartes
Eichenlaub, das nur langsam verrottet, daß Lastwägen kommen und
ihren Garten mit städtischem Herbstmüll zukippen oder Flugzeuge
Blätterpakete abwerfen, die beim Aufprall auf ihrem Grundstück
platzen. Dann würde ich sie gerne sehen. Aber es geschieht
nichts, es kommt nicht einmal Wind auf, und das Wetter ist
gleichbleibend schön.
Mir schmeckt der Kaffee nicht mehr, seit sie morgens den Garten
meidet; es ist langweilig ohne sie. Ich stehe am Fenster. Es
will mir nichts einfallen. Ihr Sammeln ist doch mein Glück.
Mir fehlen ihre Schürzen, die violetten Blümchen und gelben
Karos. Sie hatte einen Sinn für ausgefallene Stoffe.
Ich sollte anfangen vor meiner eigenen Türe zu kehren, aber so
einfach ist das nicht. Der Besen ist längst zu schwach für das,
was vor meinem Haus liegengeblieben ist. Ich könnte zu ihr gehen
und sie fragen, ob sie mir den Laubsauger leiht. Aber ich scheue
den Kontakt; wir haben noch nie miteinander gesprochen, wie
könnte ich sie dann um etwas bitten.
Sie ist wohl zur Nachtarbeiterin geworden; wie soll sonst das
Laub verschwinden, das ich ihr nun schon seit Tagen vor die Tür
werfe? Obwohl auch ich nach Einbruch der Dunkelheit ihr
Grundstück betrete, begegnen wir uns nicht. Fast immer brennt in
ihrem Schlafzimmer Licht, aber ich sehe sie nie, obwohl ich den
Wandschrank und die Bettkante erkennen kann, wenn ich an ihrem
Fenster vorbeihusche. Vielleicht läßt sie mich gewähren und
sinnt heimlich auf Rache.
In meinem Garten mehren sich die nackten Stellen. Ich bin
überrascht, wie leicht sich die dichte Blattdecke löst. Das
frische Laub, das da und dort auf die leergeharkten Rasenflächen
fällt, fängt an, mich zu stören. Ich habe mich an die grünen
Flecken gewöhnt. Sie erheitern mich.
Wenn ich in der Früh aufwache, gehe ich von einem Fenster zum
anderen, um zu sehen, ob neue Blätter daliegen. Ich bin von
meinen unterbrochenen Nächten so müde und angespannt, daß ich
mir nicht sicher bin, ob ich das Laub selbst aufgesammelt habe.
Es könnte ja sein, daß sie unbemerkt in meinen Garten gekommen
ist, um nach und nach Ordnung zu schaffen. Sie hat wenig zu tun;
die Koniferen machen sie arbeitslos, die Linden sind fast schon
kahl und die Blätter, die ich vor ihre Tür streue, lassen sich
bald entfernen.
Ich habe mir einen Feldstecher besorgt; es kann nicht sein, daß
ich sie nicht mehr zu Gesicht bekomme. Stundenlang harre ich
aus. Der Kaffee kocht über, der Bildschirm meines Computers
schaltet wieder und wieder auf Standby. Ich tippe mehrmals am
Tag meinen Zugangscode ein, aber dabei bleibt es.
Sie darf mir nicht entgehen, keine ihrer Bewegungen, nicht
einmal ihr Schatten. Ich lasse mich immer öfter von den
Leerstellen in meinem Garten ablenken; sie werden von Nacht zu
Nacht mehr.
Früher haben mich noch Details interessiert, die schwach
ausgebildeten Spitzen der Lindenblätter, die Ähnlichkeit des
Platanenlaubs mit den Ahornblättern, Blattstiele, die
kapuzenförmig die Achselknospen umfangen, die kugeligen
Blütenstände, die im Mai zusammen mit den Blättern austreiben.
Jetzt starre ich auf die grünen Rasenflecken, vergleiche deren
Formen, muß mich immer wieder daran erinnern, daß ich mir den
Feldstecher ihretwegen gekauft habe. Ich besitze in der
Zwischenzeit sogar ein Stativ, damit ich ihr Haus und den Garten
ohne Wackeln und Zittern im Auge behalten kann.
Es scheint, als zöge sie sich immer weiter ins Innere zurück;
sie verweigert mir auch den Blick auf ihre Wäsche. Die Leinen
sind verwaist, der Ständer lehnt zusammengeklappt vor dem
Badfenster. Längst schmerzen die Okulare in meinen Augenhöhlen,
und nur das an- und ausgehende Licht in ihren Zimmern läßt mich
nicht zweifeln, daß es sie noch gibt.
Ich habe schon die halbe Rasenfläche meines Gartens von den
Blättern befreit, bald werde ich mich über die Beete hermachen.
Um meine Kleider zu schonen, ziehe ich mir die Kittelschürze
über, die ich bisher nie verwendet habe. Ich trage den Stoff
verkehrtherum, damit sie das Muster nicht erkennen kann. Sie
soll nicht mehr über mich in Erfahrung bringen, als sie ohnehin
schon weiß. Ich vermute, daß sie die Schlafzimmerlampe so früh
ausschaltet, weil sie mich im Dunkeln besser sehen kann.
Das nächtliche Geharke kostet mich meine letzte Kraft; ich habe
ein Stück des Zaunes niedergerissen, damit ich mein Laub
leichter auf ihr Grundstück schaffen kann. Nach wie vor bringt
sie es zum Verschwinden. Sie wehrt sich nicht.
Ich habe keinen Kaffee mehr und komme nicht dazu, neuen
nachzukaufen. Die Zähne des Rechens sind verbogen, weil ich
damit auch das Laub auf dem Zufahrtsweg weggekratzt habe. Ich
bin auf das Garagendach gestiegen. Endlich ist es wieder grau,
ohne Gelb und Rot dazwischen. Und der Rasen ist ausgekämmt.
Keine Bodenstelle bedeckt. Die Mulchdecke fort. Das Staudenkraut
abgeschnitten.
Ich lausche. Es knackt in den Ästen, raschelt. Ich kann es kaum
erwarten.
Wenn es fällt, wird es für mich zur Plage; ich bücke mich und
stecke es in Säcke. Tag für Tag.
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