Die zugereisten Geschwister
„Aushäusige“, ein Romandèbut von Sabine Gruber


Neue Zürcher Zeitung 19.-20.4.1997 Nr.90

Der Titel ist ein ungebräuchliches Wort, er wird an keiner Stelle des Buches erklärt, und doch ist am Ende alles klar: Wer ein wackeliges Zuhause hat und weggeht, findet nicht mehr heim. „Aushäusige“ sind die zwei Südtiroler Geschwister, die wegziehen nach Wien und nach Venedig, aus Vernunft, aus Liebe oder aus Kopflosigkeit, um dem Stumpfsinn in ihrer Bergheimat zu entkommen. Doch wer dort kein rechtes Haus hatte, baut sich auch sonst nirgends eines.
Sabine Gruber, geboren 1963 in Meran (Italien), hat in Wien studiert und in Venedig als Universitätslektorin gearbeitet, war Stadtschreiberin in Klagenfurt und lebt jetzt wieder in Wien. Mit dieser Biographie sind auch schon die geographischen Kreuzwegstationen ihres ersten Romans skizziert. Aber der autobiographische Proviant nährt nur einen geringen Teil des Buches, der grosse Rest lebt von Erfindungen, vom sicheren Sprachgeschmack der Autorin, von der Schizophrenie der Erzählstimmen und des Landstrichs, aus dem sie kommen.
Die Hauptfigur des Romans ist Rita, aber meistens ist es ihr Bruder Anton, der das Wort führt und erzählt. Er ist von Südtirol nach Wien gezogen, dort gibt er seiner fragilen Muttersprache den ersehnten Halt und wird Journalist. Die Schwester kommt nur bis Venedig, allzu bereit, zu fliehen und sich zu verlieren. Für einen Augenblick verliebt sie sich in einen Fischhändler, dann lebt sie jahrelang mit ihm, angeekelt von seinem Gestank und seiner Stumpfheit. Als sie es nicht mehr aushält, zieht sie zum Bruder nach Wien, lebt unbeteiligt neben ihm. Eine Zufallsbekanntschaft, ein Mann mit Aktenkoffer, verschafft ihr Arbeit in einer Vinothek in Klagenfurt, auf halbem Weg von Wien nach Venedig. Heimisch wird sie auch dort nicht. Das ist alles.
Das ist leicht gesagt und schnell erzählt, doch so einfach macht es Sabine Gruber sich und dem Leser nicht. Der Roman ist kompliziert zerknittert, sein Erzählverlauf verwinkelt, die Stimmen arg durcheinander. Und gerade dies ist das Schöne an dem Buch: die Konfusion der Erzählstimmen, die Zersplitterung der Handlung, der bis an die Grenzen getriebene Realismus der Lebensverwirrung, sehr realistisch und sehr wirr zugleich. Oft ist zu Beginn der Absätze nicht klar, wer spricht; der Bruder oder die Schwester, aber das macht nichts, so sehr gleichen sie einander. Sie erzählen beide durcheinander in der ersten Person, zum Verwechseln ähnlich wie Spiegelbilder, denn sie haben dieselbe Kindheit, denselben tyrannischen Missmut des Vaters erlebt, unterschiedlich sind nur die Fluchtmethoden. Der Bruder hat das alles besser überstanden, er macht zumindest Karriere. Die Schwester verhaspelt sich in ihrer Aussenseiterrolle. „Aushäusige“ ist ein zweistimmiger Roman über das Fremdsein. Zwiesprache halten auch die Gegenwart und die Vergangenheit, das beredte Elend von jetzt und die Stummheit von damals. Sparsam und kunstvoll arrangiert sind „das bisschen Sprache“ und die Wehmut aus Zeiten, die auch nicht schlechter waren.
Der Roman beginnt mit dem Ende von Ritas Ehe in Venedig, einem Schiffbruch im seichten Wasser, mit Alkohol, Lieblosigkeit und Betrug, mit schmutzigem Geschirr und der sonntäglichen Radioübertragung der Fussballspiele. Fischgestank und Marktgeschrei, lauernde Nachbarn und Küchendreck, das ist übriggeblieben von ihrem ersehnten Italien. Die Autorin kennt die Gassen und Brücken der Stadt, die Nischen des Unglücks, aber auch die Gefahren des Kitsches. Mit großem Geschick hält sie sich fern von Klischees, von süßem Untergang, vom Venedig der trauernden Gondeln, vom Meer der schlechten Beispiele in der Literatur. Für die „Aushäusige“ ist es die Stadt der geschlossenen Fensterläden, der Zänkereien und der freudlosen Seitensprünge.
Aber Rita hat immer in Ghettos gelebt. Als Deutschsprachige war sie in Südtirol neben den fremden Italienern nie wirklich daheim. Der verdrossene Vater, eine ewig strickende Tante und die schlaflose Mutter haben sie nur Schweigen gelehrt. „Das bisschen Sprache war Befehl, üble Nachrede, Streit oder aussichtslose Verteidigung.“ Nur der Bruder hat es geschafft, ist die „Stottersprache“ losgeworden, doch auch seine Erinnerungen kleben an der engen Kindheit unter Apfelbäumen. Der Schwester erzählt er immer wieder das Neueste von zu Hause. Der nun tattrig gewordene Vater lässt ihn nicht los.
Sabine Gruber kennt auch das Wien der Zugereisten und der Dazugehörenden, der schmucken Intellektuellen, der geschniegelten Lokale und Konversationen, wo alle „die Italiener“ lieben, vor allem die Toskana. In ein paar stechenden Bildern huscht nebenbei diese smarte heile Welt durch den Roman: die Umtriebe eines friedliebenden Journalismus, der zwar ganz gut mit dem Krieg lebt, noch besser aber mit einem Filmfestival, womöglich in Italien. Ganz zu Hause fühlen sich die Südtiroler Ausreisser in dieser Kaste nie, nicht einmal der wendige Bruder. Nach einer Reise in Bosnien schwört er sich, „in Zukunft nur noch über Handkes Spaziergänge zu schreiben“. Die Schwester hat noch schlichtere Ambitionen. Sie kennt die Weine, und die Weinkenner umschwärmen sie wegen ihrer italienischen Herkunft. Einmal fährt sie sogar wieder nach Venedig.

Franz Haas