Über Nacht

I

Anfangs waren es noch einzelne Punkte gewesen, dann plötzlich hunderte, tausende. Sie bewegten sich rauf und runter, hin und her, stürmisch, kraftbeladen. Die Menschen, die stehengeblieben waren, folgten mit ihren Blicken den wellenförmigen Bewegungen, den S-Linien und Ellipsen. In manchen Augenblicken sahen die dunklen Formen wie ovale Flugobjekte aus, dann änderten sie sich wieder, teilten sich oder rissen auseinander. Eine blonde Frau, die gebannt in den Himmel schaute, stieß rückwärtsgehend gegen einen Baum, machte einen Schritt zur Seite. „Was ist das?“ fragte sie. Niemand antwortete. Der Passant, der eine Weile neben ihr gestanden hatte, war längst weitergegangen, ein anderer beobachtete mit offenem Mund die Breitband-Formationen.
„Stare“, sagte ich, „die sind überall hier in der Stadt. Passen Sie auf, daß Sie nicht in den Hundedreck treten.“ Die Frau schaute kurz zu Boden, nickte, als wollte sie sich bedanken und setzte ihren Weg fort. Ich blickte ihr nach, bis sie hinter einem geparkten Lieferwagen die Straße überquerte, dann öffnete ich die Autotür, warf die Einkaufstasche auf den Beifahrersitz und fuhr los.
Der Berufsverkehr hatte eingesetzt, vor dem Bahnhof Termini stauten sich die Autos. Die Mopedfahrer zwängten sich in jede noch so kleine Lücke. Der Fahrer vor mir ließ die Fensterscheibe runter und schimpfte auf einen Jugendlichen, weil er beim Überholen den linken Außenspiegel gestreift hatte.
Noch immer waren die Stare zu sehen, kleinere Verbände, die im Flug ein V formierten; hie und da scherte ein Vogel aus, um sich weiter hinten wieder einzuordnen.
Ich überlegte, an der nächsten Kreuzung abzubiegen und einen Umweg zu fahren, doch um diese Zeit würde der Verkehr auch in den Seitenstraßen stocken.
Aus meiner Einkaufstasche roch es nach Brot. Ich wickelte es aus dem Papier, brach ein Stück Pecorino ab, den ich aus der Klarsichtfolie geschält hatte. Der Käse bröselte auf die Hose, das Papier rutschte unter die Pedale. Ich versuchte, es aufzuheben. Die Autos und Mopeds setzten sich wieder in Bewegung, hinter mir wurde gehupt.
Zwischen meinen Beinen vibrierte das Handy. Als ich die Stimme meiner Vorgesetzten erkannte, bedauerte ich, den Anruf entgegengenommen zu haben. „Es ist mein freier Tag“, sagte ich, aber es nützte nichts.
Die Stare flogen jetzt ein Doppel-V; ich entdeckte sie noch einmal über der Kirche Santa Maria della Vittoria. Beinahe hätte ich die nächste Ampel übersehen.

„Ich verstehe nicht, warum die überhaupt noch hier sind. Es ist doch Sommer.“ Die Luft im Umkleideraum war stickig.
„Wer?“ fragte Marta, während sie in ihre Sandalen schlüpfte.
„Na, die Vögel.“
Sie war müde, mußte sich am Metallschrank abstützen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. „Du mit deinen Vögeln.“
„Früher haben sie sich um diese Zeit in Riga oder Moskau aufgehalten - “
„Ich weiß, Mira.“ Sie drehte mir den Rücken zu, stopfte die Schürze in den vollen Wäschekorb. „Lucchi atmet schwer. Wenn du bitte nach ihm schauen könntest. Carelli muß noch gewaschen werden. Mach`s gut. Bis morgen.“
Ich wechselte die Schürze, weil ein Knopf abgegangen war, dann trat ich den Dienst an. Hinter der Tür wartete bereits Mancini und wollte eine Zigarette. Die Tagesration von fünf Stück hatte er bis zum Mittagessen aufgebraucht, am Nachmittag verfolgte er die Besucher, schnüffelte an ihren Kleidern, um herauszufinden, ob sich das Betteln lohnte. Er lief im Pyjama hinter mir her.
„Und, wieviele Stare waren es heute?“
„Eintausendneunhundertdreiundsechzig,“ sagte er.
Ich schloß die kleine Küche auf, in der das Personal zu essen pflegte, und nahm eine angebrochene Packung MS aus dem Schrank. Mancini zupfte mehrmals mit dem Zeigefinger- und Daumennagel an einem Filter, bis er die Zigarette zu fassen kriegte.
„Nur eine?“ Er lächelte mich an, verneigte sich.
„Okay, zwei, obwohl Sie sich verzählt haben.“
Er steckte sich die eine Zigarette links, die andere rechts hinters Ohr.
„Es waren eintausendneunhundertvierundneunzig. Sie haben die kleinen übersehen, die im Huckepackflug auf den größeren mitgeflogen sind.“
„Das gibt`s nicht“, lachte er.
„Doch, das gibt`s. Und jetzt raus.“
Er verneigte sich wieder, dieses Mal nach allen Seiten, dann verließ er im Rückwärtsgang die Küche.
Ich sah auf die Straße hinaus; auf der Bank vor dem Eingang saßen drei Männer aus meiner Abteilung und blickten den Autos hinterher. Manchmal fragte ich mich, ob sie ihnen bewußt nachschauten oder ob sie einfach die Köpfe hin- und herbewegten, um anzudeuten, sie seien beschäftigt. Miteinander zu sprechen, war ihnen nicht möglich.
„Wozu soll ich mit den anderen reden“, hatte Mancini einmal gesagt, „erzähl ich ihnen meine Geschichte, fühlen sie sich an ihre eigene erinnert, und die ist schlimmer.“
Ich schloß das Fenster, setzte Teewasser auf. Die Verrichtungen blieben immer die gleichen, in letzter Zeit konnte ich mich oft nicht mehr daran erinnern, wann und wie ich die Arbeiten erledigt hatte. Ich bewegte meine Hände so mechanisch wie die drei Männer auf der Straße ihre Köpfe. Nachdem ich die Tabletten aus der Verpackung herausgebrochen und in den Medikamentenschiebern verteilt hatte, zählte ich sie alle noch einmal durch.
Mancini steckte den Kopf zur Tür herein.
„Was ist Mancini – alle schon geraucht?“
„Sie hatten recht, es waren eintausendneunhundertvierundneunzig.“ Er grinste und hielt den Daumen in die Höhe.
„Sie kriegen keine mehr.“
Er zuckte mit den Achseln. „Dann nicht.“ Bevor er den Kopf wieder aus der Tür zog, fragte er mich, ob ich verheiratet sei.
„Das wissen Sie doch. Seit vier Jahren.“
„Oh“, sagte er „das tut mir aber leid.“
Ich schaute nach Lucchi. Er saß neben der angelehnten Balkontür, das Hemd bis zum Nabel offen.
„Es zieht“, sagte ich und schloß das Badezimmerfenster.
„Ach wo.“
„Sehen Sie sich den Lampenschirm an. Der bewegt sich doch, oder?“
„Na und?“ Lucchi sah zur Seite. „Dann bewegt er sich eben.“
Ich konnte keine abnorme Atmung bei ihm feststellen. Als ich ihn fragte, ob er genug Luft kriege, meinte er, den Blick auf das Badezimmerfenster gerichtet: „Jetzt nicht mehr.“
„Brauchen Sie noch etwas?“ Ich stellte den Tee auf den Nachttisch.
„Ich habe Sie nicht gerufen.“
Als ich mich zur Tür wandte, hörte ich Schritte hinter mir; sie hatten nichts Schlurfendes oder Schleppendes an sich. Es waren Straßenschuhe, ich erkannte sie am Klang der hohlen Absätze. Lucchi, erinnerte ich mich, trug Pantoffeln mit einer Gummisohle; das Oberteil war mit einem senffarbenen Kordstoff überzogen.
„Guten Abend.“
Ich drehte den Kopf, wollte mit der Hand nach der Türklinke fassen, griff aber ins Leere. Auf mich kam ein großgewachsener, weißhaariger Mann zu, den ich auf Mitte vierzig schätzte. Er habe, sagte er mit Blick auf meine Hand, die nun auf der Klinke lag, auf dem Balkon eine Zigarette geraucht, obwohl dies nicht erlaubt sei. War es die Art, wie er mich musterte, oder waren es seine asymmetrischen Koteletten, die mir sofort auffielen – ich reagierte nicht. Als ich ihm nicht die Hand gab, legte er, ohne zu zögern, seine Hand auf meine.
„Angenehm“, sagte er, „Rino“, als hätte es sich um eine Begrüßung gehandelt. Er folgte mir auf den Gang hinaus, blieb vor Lucchis Tür stehen.
„Mein Onkel ist ziemlich unfreundlich“, sagte er.
„Seine Sache.“
Ich ging zur nächsten Tür.
„Und wie heißen Sie?“ rief er mir nach.
Ich hob die Augenbrauen und verschwand in dem Zimmer.

Die Nacht verlief ohne große Zwischenfälle; Carelli verlangte nach Valiumtropfen, Rossi übergab sich wenige Meter vor der Toilette, und eine Frau aus dem oberen Stockwerk hatte sich gegen Mitternacht in der Tür geirrt und war in die Männerabteilung gekommen, wo ich sie daran hinderte, sich in Mancinis Bett zu legen. Sie glaubte, sie sei in ihrem Haus in der Via Nomentana. Ich konnte sie nur mit Gewalt aus dem Zimmer drängen. Was ich hier zu suchen habe, fragte sie mich, als ich Mancinis Tür hinter uns zuzog. Sie zwickte mich in den Arm und drohte mir mit der Polizei. Ich hätte in ihrem Haus nichts verloren. „Raus“, sagte sie, „raus, raus, raus.“ In ihrer Wut stemmte sie sich gegen mich, so daß ich mich mit einem Fuß am Türpfosten abstützen mußte. Sie war schwer; der helle, offene Bademantel und die langen Haare verliehen ihr ein riesenhaftes Aussehen. Auf einem ihrer Hausschuhe bemerkte ich mehrere Reiskörner.
„Was machen Sie“, schrie sie, ließ sich dann aber doch in den oberen Stock begleiten. Die Kraft, mit der sie sich eben noch gegen mich gewehrt hatte, schien sie nun in ihre gefalteten Hände zu legen. Die Fingerspitzen waren stark gerötet, die Knöchel traten weiß hervor.
„Sie müssen sie anbinden, wenn Sie allein sind“, sagte ich zu meiner Kollegin.

Gegen zwei Uhr früh rief Vittorio an. Er behauptete, ich hätte nicht auf seine Mobilbox gesprochen, ihn nicht über meinen Nachtdienst informiert.
„Jetzt erst merkst du, daß ich nicht zu Hause bin“, sagte ich.
„Ich suche dich seit einer Stunde.“ Im Hintergrund lief der Fernseher, ich konnte Vittorio kaum verstehen.
„Ich habe dich aber angerufen“, sagte ich laut.
„Das glaub ich nicht.“ Er klang müde, dabei war er heute gar nicht im Geschäft gewesen.
„Du bist ziemlich zerstreut in letzter Zeit.“
„Du meinst wohl dich selber.“
Ich horchte auf; da war er wieder, dieser Tonfall. Obwohl Vittorio mich in den letzten Monaten freundlich und zuvorkommend behandelt hatte, war etwas Gereiztes in der Stimme, das mir neu war.
„Na schön, vielleicht habe ich einem Fremden auf die Box gesprochen.“
Wir schwiegen beide; ich konnte hören, wie er schluckte.
„Tut mir leid“, sagte er, „es ist wirklich keine Nachricht drauf.“
Nachdem wir telephoniert hatten, war es lange ruhig im Haus; auch aus der Frauenabteilung drang kein Klingeln in den unteren Stock, kein lautes Rufen. Ich hoffte insgeheim, daß Lucchi läuten würde, weil ich gerne etwas über diesen Neffen erfahren hätte, doch sooft ich in sein Zimmer schaute, schlief er fest, so fest, daß ich mich mehrmals zu ihm hinunterbeugte, um zu hören, ob er überhaupt noch atmete.
Ich ruhte mich auf der Eckbank in der Küche aus und dachte an Vittorio. Unter Gewählte Rufnummern hatte ich seine Telephonnummer gefunden, auch das gestrige Datum und die Anrufzeit 21.15 Uhr. Ich überlegte, ihn zurückzurufen, um ihm zu sagen, ich könnte es ihm beweisen.
War wenig zu tun, dehnten sich die Nächte. Ich wußte nie, was mir lieber war: die Stille in der Küche, die nur vom Klicken des Zeigers und vom gelegentlichen Rattern des Kühlschranks unterbrochen wurde, oder das ständige Klingeln der Heimbewohner. Manchmal, wenn tagsüber keine Zeit gewesen war, um ein paar Stunden vorzuschlafen, schlug die Müdigkeit mir auf den Magen oder meine Schläfen schmerzten.
Von sechs Uhr bis Dienstschluß mußten die Pflegefälle gewaschen werden. Im Sommer, wenn es an Personal mangelte, war diese Arbeit in einer Stunde nicht zu bewältigen. Oft versuchte ich, früher damit anzufangen, doch diejenigen, die noch sprechen konnten, beschwerten sich, daß ich sie so zeitig aus dem Schlaf riß.
Mancini war Frühaufsteher; wenn ich die Küchentür öffnete, stand er schon im Eingangsbereich vor dem Kaffeeautomaten und suchte im Aschenbecher nach Kippen. Es war der einzige Ort im Haus, wo Rauchen erlaubt war. Hatte ich die Pflegefälle versorgt, begleitete er mich zu den anderen, von Zimmer zu Zimmer.
„Später, Herr Mancini.“
Ich konnte es nicht erwarten, Lucchi aufzusuchen, doch Carelli klingelte an diesem Morgen zum dritten Mal; erst mußte ich ihm die Illustrierte geben, die ich am Abend auf den Tisch gelegt hatte, dann ein Glas Wasser holen. Nun lag seine Uhr auf dem Boden. Zwischen dem Bett und der Kommode war gerade so viel Platz, daß man die Laden rausziehen konnte. Als ich mich bückte, um die Armbanduhr aufzuheben, griff er mir an den Busen.
„Carelli!“
Er grinste. „Bleiben Sie doch hier, bei mir“, sagte er und hielt mich am Arm fest. Er hatte ein Einzelzimmer, weil er bereits mit neunundvierzig ins Heim gekommen war. Seit seiner Geburt litt er an Gelenksversteifungen, die Arme waren davon weniger betroffen. Seine Mutter, mittlerweile selbst pflegebedürftig, hatte sich nicht mehr um ihn kümmern können. Lange Zeit hatte Carelli den Wunsch gehegt, in seinem Bett ein Ei auszubrühten. Er hatte es sogar zweimal versucht. Daß es ihm nicht gelingen wollte, lag weniger daran, daß er die absolute Brutruhe nicht hätte einhalten können als an der zu niedrigen Bruttemperatur und zu geringen Luftfeuchtigkeit. Damit ein Küken schlüpfen konnte, brauchte es konstant 37,8 Grad.
„Was soll ich noch tun? Sagen Sie es lieber gleich. Ich komme dann nicht mehr, egal wie oft Sie klingeln.“
Er prüfte mit der freien Hand seine Uhr, indem er sie ans Ohr hielt. „Die wird mich überleben“, sagte er und ließ mich los.

Mancini hatte Rossi aus dem Zimmer geholt und schob ihn auf einem Sessel durch den Gang. „Aber er kann doch gehen“, sagte ich, „lassen Sie ihn.“
„Er will es so.“
Ich fragte mich, wie sich die beiden verständigten. Rossi bewegte nur die Lippen, manchmal so heftig, daß sich in den Mundwinkeln Speichelreste sammelten.
„Der weiße Schaum sind die Wörter, die wir nicht hören“, hatte Marta einmal gesagt. Rossis Hände waren immer in seinem Gesicht, vielleicht wußte er, daß da etwas war, das weggewischt gehörte, doch seine Finger waren steif, es fiel ihm schwer, die einzelnen Bewegungen zu koordinieren. Er tastete über seine Nase, die Augen, die Stirn. Die Wörter blieben in den Mundwinkeln.
Vor Lucchis Zimmer stand der Wäschewagen. Ich hatte gar nicht bemerkt, daß meine Schicht zu Ende war.



II

Nichts schob sich zwischen den Himmel und das abgeschabte Skelett, nur ein paar ausgetrocknete Büsche am Horizont. Der Wind wehte und trieb die feinen Staubpartikel über den Körper. Trockenheit modellierte Bruchlinien, Abschuppungen und Spalten in den Boden. Der aufgewirbelte Sand sammelte sich, ließ Dünen entstehen, wachsen und wandern, bis sich die Wellen und Flächen wieder im Sturm verloren. Die Sandkörner drangen wie Nadelstiche in die Haut.
Irma kratzte sich, wälzte sich, rollte über Schotterfelder ohne Schattenschutz. Da waren nur welke Sträucher, einzelne Halme in Mulden, wie Kanülen in den Beugen stehengelassen. Die Luft vibrierte, keine Wolken. Irma tastete über die Kratzspuren, die Verkrustungen und Faltungen – ein Klingeln.
Sie setzte sich auf, schüttelte sich, fiel zurück ins Bett und griff nach dem Schalter. Der Strahl der Lampe fuhr ihr in die Augen. Bevor sie noch „Hallo“ sagen konnte, erinnerte sie sich an Mutters terrorisierten Blick; alle waren damals im Korridor zusammengelaufen: Vater in seinem gestreiften Pyjama, Mutter mit ihren von der Angst unkoordinierten Bewegungen, Richard, der ältere Bruder, der sich sogleich auf die Kommode gesetzt und die Arme vor der Brust verschränkt hatte.
Wer in der Nacht anruft, kann nur der Tod persönlich oder dessen Botschafter sein, hatte Mutter gesagt. Diese körperlosen Stimmen aus dem Hörer waren ihr ohnehin unheimlich gewesen.
Irma sah sich im Türrahmen zum Kinderzimmer stehen, sah Mutter als erste nach dem Hörer greifen. „Ja?“ Sie hatte den Kindern eingeschärft, in der Nacht niemals den Namen zu nennen, als könnten sie sich dadurch dem Unglück entziehen. Späte Stimmen, die ins Haus drangen, bedeuteten nichts Gutes. Allein das Stocken zu Beginn des Anrufs, das bloße Atmen ließ die Welt aus den Fugen geraten. Mutters „Ja?“ war damals ein lautes „Nein, das ist nicht wahr.“ gefolgt. Sie hatte sich an der Garderobe festgehalten. Wieder und wieder hatte Irma ihre Mutter sagen hören: „Nein, das ist nicht wahr. Nein. Nein.“ Dann war sie in die Schuhe geschlüpft. „Ich komme sofort.“
„Hallo,“ sagte Irma mit brüchiger Stimme, und noch einmal: „Hallo.“ Sie bekam das Gesicht der Mutter nicht aus dem Kopf. Kein Klingeln ohne Erschrecken. Jedesmal sah sie vor sich, wie alle im Korridor zusammenliefen, obwohl Irma schon lange allein lebte, allein mit ihrem Sohn.
„Frau Irma Svetly? Allgemeines Krankenhaus. Wir haben eine Niere für Sie.“

Irma stand neben dem Telephon, die Hand lag auf dem Hörer. Im Halbdunkel des Vorzimmers fand sie ihr Gesicht im Spiegel. Kopf, Arme, die zittrigen Beine, das weite T-Shirt – da waren nur noch Bruchstücke. Wohin mit Florian jetzt in der Nacht?
Sie begann durch die Wohnung zu laufen, machte alles gleichzeitig, zog sich aus, griff nach dem Kulturbeutel, nach einem frischen Handtuch, streifte sich das alte Kleid über, suchte das Adreßbuch, um es wieder zurück auf den Schreibtisch zu legen, packte das Diktaphon in die Tasche und mußte an Marianne denken, die seit vier Jahren an der Maschine war. Marianne wartete auf einen Anruf wie diesen, wartete, daß die Abhängigkeit ein Ende haben würde, sich die brüchigen Knochen erholten. Sie wartete mit geborgter Geduld. Und wieder hatte es nicht Marianne getroffen.
Ich muß Richard anrufen, dachte Irma. Aber Richards Handy war ausgeschaltet. Sie versuchte es unter der Festnetznummer - endlich ein verschlafenes „Wer spricht?“
„Ist Richard bei dir?“
„Nein. Vielleicht in seinem Zimmer. Ist etwas passiert?“ fragte Davide.
„Das Krankenhaus hat angerufen. Ich krieg eine Niere.“ Irma hörte, wie Davide aufstand, das Sternparkett knarrte unter seinen Füßen.
„Das ist – das ist großartig,“ sagte Davide. „Hast du es auf seinem Handy probiert?“
„Es ist ausgeschaltet.“
„Schon wieder.“ Davides Stimme war leise. Irma hörte, wie er seufzte. „In seinem Zimmer ist er nicht.“
„Kannst du Florian übernehmen?“
„Ich komme gleich,“ sagte Davide.
Gleich, dachte Irma noch, ist der Weg durch zwei Bezirke. Sie zog sich wieder aus, stellte sich unter die Dusche.
Vor ein paar Jahren war jeder Klingelton noch ein anderes Stück Hoffnung gewesen. Aber von Florians Vater hatte Irma nichts mehr gehört. Sie hatte ihn angerufen, gewartet, ausgeharrt, hatte es klingeln lassen, bis aus dem Freizeichen ein Besetztzeichen geworden war. Wochen, Monate hatte Irma Rino hinterhertelephoniert – am anderen Ende der Leitung war es still geblieben.
Je länger sie in den Hörer hineingehorcht hatte, desto schneller waren die Erinnerungen an seine Wohnung in Rom verblaßt; all die kleinen Details wie der Globe-Sessel am Fenster oder die Hängelampe aus Milchglas, die sie sich ins Gedächtnis gerufen hatte, um sich die Zeit des Wartens zu vertreiben, waren irgendwann nicht mehr abrufbar gewesen. Formen und Farben hatten nicht mehr gestimmt. Von seinem Sohn hatte Rino nie erfahren. Er würde auch nicht von Irmas Glück erfahren, und schon gar nicht vom Unglück eines Fremden, dessen Niere in einem Styroporkasten, verpackt in Plastik und Eis, auf sie wartete.
Irma drehte das Wasser ab, der Duschkopf entglitt ihrer Hand, schlug gegen das Knie. Sie konnte kaum noch stehen, hatte Mühe, sich abzutrocknen, ins Kleid zu steigen.
Die Kusine fiel ihr ein; sie hatten sich mehrmals gestritten. Obwohl Greta Krankenschwester war, schienen ihr die Argumente der Transplantationsgegner vertrauter als jene Irmas. Was den Tod ausmache, das könnten eben nicht die Ärzte entscheiden, hatte Greta gesagt und Irma vorgeworfen, sie würde den Tod immer nur vom eigenen Leben aus betrachten, immer nur als ihr eigenes Ende, nie als Übergang. Es gäbe keine Gewißheit, keine klare Trennungslinie zwischen Noch-Leben und Schon-gestorben-sein. Die einzige Gewißheit sei Gott. Greta hatte gut reden. Sie war nie krank gewesen, klagte über gelegentliches Zahnfleischbluten. Die beiden waren sich seither nicht mehr begegnet.
Florian schlief ruhig. Als Irma ihn zudeckte und seine Wange küßte, drehte er sich auf den Bauch. „Nächsten Sommer werden wir zwei wieder ans Meer fahren“, sagte Irma leise. Sie setzte die Stofftiere ans untere Bettende und eilte zum Fenster, damit sie Davide rechtzeitig abfangen konnte und er nicht klingeln mußte. Irma drückte die Stirn gegen die Scheibe. Das Glas war angenehm kühl. Ihre Hände lagen auf dem Bauch, der sich immer wieder zusammenzog.
„Nein, das ist nicht wahr. Onkel Alfred lebt nicht mehr,“ hörte Irma die Mutter sagen. Alfred war ihr einziger Bruder gewesen, eine Art Familienersatz, nachdem der Vater im Juli 1941 an der Murmanskfront gefallen war. Irma sah ihre Mutter vor sich, mit hängenden Schultern; sie hatte den Hörer noch in der Hand gehabt, als das Gespräch längst zu Ende gewesen war, hatte an ihrem Nachthemd genestelt, Richard war von der Kommode gerutscht.
Da draußen, dachte Irma, ist jetzt auch wer tot.

Sie fuhr am Hochhaus der UNIQA vorbei, an der Urania, dem Regierungsgebäude mit dem bombastischen Doppeladler. Irma betrachtete alles wie zum letzten Mal: die Reiterstatue des Feldmarschalls Radetzky vor dem Haupteingang des ehemaligen Kriegsministeriums, die Postsparkasse, deren Fassade mit ihren Nieten an den Granit- und Marmorplatten an eine überdimensionale Geldkiste erinnerte. Irma faßte nach der Tasche, nach den Schlaufen, hielt weiter Ausschau nach Gewohntem, Heimischen, aber die vom Ring abgehenden, im Halbdunkel liegenden Straßen und Gassen sahen aus wie überall um diese Zeit, blaß und leer.
„Bleiben Sie bei den Fakten; hier bei uns werden Sie nichts anderes erfahren“, hatte Irmas Ärztin einmal gesagt.
Als Richard zurückrief, bog das Taxi bereits in die Alserstraße ein, nahm Kurs auf den Gürtel. Richard sagte, er könne nicht verstehen, warum Irma die Eltern nicht benachrichtigt habe.
„Soll ich sie etwa beunruhigen und dann wird nichts draus?“sagte Irma. „Du bist sauer, weil Davide es zuerst erfahren hat. Ein Glück, daß er dich doch noch erreicht hat. Sag mal, wo bist du eigentlich?“
Richard schwieg.
„Reißt euch vor Florian zusammen.“
„Hast du jetzt keine anderen Sorgen,“ sagte Richard.

Irma dachte an den Toten, an den irreversiblen Ausfall der Hirnfunktionen. War er auch wirklich tot? Oder lag er nur unumkehrbar im Sterben, hatte gar noch elementare Empfindungen? „Das ist ausgeschlossen,“ hatte Irmas Ärztin gesagt, „die Lebensmerkmale eines Lebewesens entstehen alle durch die Tätigkeit des Gehirns. Fällt das Gehirn aus, ist da nichts mehr.“ Nur ein warmer Körper mit schlagendem Herzen, war Irma damals eingefallen, aber sie hatte geschwiegen, denn ihr war klar gewesen, was die Ärztin sagen würde: Der spontane Atemimpuls wird apparativ ersetzt; auf diese Weise gelangt Sauerstoff in die Lunge und die Stoffwechselprozesse können weitergehen. Blutdruck und Herzfrequenz werden medikamentös beeinflußt, damit die Blutversorgung des gesamten Körpers gewährleistet wird.
Und die Bewegungen? Hatte Greta nicht erzählt, daß sich die Hirntoten noch bewegen würden? Waren es tatsächlich nur reflexartige Zuckungen, die über das Rückenmark gesteuert werden?
Als Irma aus dem Taxi stieg, atmete sie durch. Das ist die letzte Frischluft für lange Zeit, sagte sie sich, der letzte Blick in den Himmel. Irma fand keinen einzigen Stern. Rachen und Zunge waren trocken, als hätte sie nur durch den Mund geatmet.

Sie wurde an die Maschine angehängt; noch einmal wusch sie ihr Blut. Die Stiche in den linken Unterarm erschienen Irma wie Schlußpunkte. Die Nadeln spürte sie kaum, obwohl sie die Dicke von Stricknadeln hatten. In Gedanken war sie längst woanders, nahm ihr Diktaphon in die freie Hand und sprach leise: „Der Zufall und der Tod sind nicht unergründlich, sie haben gemeinsam diese beruhigende Regelmäßigkeit.“
Hinter Irma surrte und piepste es; die vorerst letzte Dialyse fand aus Mangel an Geräten in der Intensivstation statt.
Sie überlegte, nun doch die Eltern zu benachrichtigen, aber noch waren nicht alle Hürden genommen. Man hatte die Blutzellen des Toten mit ihrem Blutserum gemischt, um zu sehen, ob das Cross-match auch tatsächlich negativ war. Zerstörte Irmas Serum die Spenderzellen, mußte sie wieder nach Hause zurück; die Niere erhielt ein anderer.
Es war ein Kommen und Gehen. Neben Irma lagen nur dürftig abgeschirmt zwei Intensivpatienten. Die Schwestern und Pfleger kontrollierten Blutdruck, Puls und Temperatur, verfolgten die Kurven auf den Geräten, notierten die Flüssigkeitsmengen in den Infusionsbeuteln.
„Sie müssen nachher zum Röntgen,“ sagte eine der Schwestern, „Sie sind doch Frau Svetly?“
„Ja,“ antwortete Irma und dachte: Noch bin ich Frau Svetly. Wie wird es sich anfühlen, wenn das Organ eines Toten in mir lebt?
„Ich tue es für mich und für Florian,“ hatte Irma damals zu Greta gesagt. Das sei nur verständlich, hatte diese geantwortet, aber Irma solle zumindest klar sein, daß sie ihr Überleben einem fragwürdigen Tod verdankte. „Es widert mich an, daß das plötzliche Sterben, nein, nicht der plötzliche Tod, sondern das Sterben mehr und mehr zur sozialen Frage wird. Ein Gesunder, der stirbt, sei verpflichtet, einem Kranken zu helfen – das ist doch anmaßend,“ hatte Greta gesagt.
„Du bist ja päpstlicher als der Papst,“ hatte Irma entgegnet. Sie wußte, daß die Kirche nichts gegen Transplantationen hatte, daß für sie der Körper nach dem Tod bedeutungslos war. Es galt, die Seele zu retten.
Gretas Vorwürfe hatten Irma verletzt; sie war nicht auf diese Ablehnung vorbereitet gewesen. All die Freunde hatten ihr zugeredet, sich so bald wie möglich auf die Liste setzen zu lassen; auch der Großteil der Familienmitglieder war für eine Transplantation gewesen.
Was ist schon individuell, dachte Irma. Wir sind in dieses große Ganze eingebunden und können uns kaum rühren. Florian ist ebenso ungeplant entstanden, wie mein Spender möglicherweise völlig unvorhergesehen gestorben ist. Wir werden durch glückliche oder unglückliche Fügungen geboren, und manchmal ist es sogar der Zufall, der uns auslöscht. Er korrigiert seine Fehler nicht. Das ist es, was ich Marianne sagen muß. Es gibt Phasen des Nicht-Zufalls, in denen das Leben zäh dahinfließt, durch nichts unterbrochen.
Irma schaltete das Diktaphon ein, aber es wollte ihr nichts mehr einfallen.
Sie blickte auf die Maschine, die sie seit zweieinhalb Jahren am Leben erhielt. Was die Nieren nicht mehr schafften, hatte eine Filtermembran übernommen, sie wusch die giftigen Substanzen dreimal pro Woche mehrere Stunden lang aus Irmas Blut, entzog ihrem Körper jene Flüssigkeit, die er nicht mehr auf normalem Wege auszuscheiden vermochte. Irma konnte es gar nicht glauben, daß Abgeschlagenheit, Übelkeit, Kreislauf- und Schlafprobleme ein Ende haben sollten.
Wir stehen alle seit Monaten und Jahren auf der Liste, hatte Marianne einmal gesagt, und wenn es uns trifft, wenn man uns endlich aus unserer Misere rauszieht, können wir es nicht fassen. Das Glück ist unglaubwürdig geworden.

Auf dem Weg in die Röntgenabteilung sah Irma eine Frau mit verweinten Augen. Sie blätterte in einer Illustrierten. Dahinter saß ein Mann, der sein Gesicht mit den Händen zudeckte. Unbekanntes Unglück, dachte Irma, Biographien, für die ich keine Sprache haben werde. Sie ertappte sich dabei, wie sie innerlich Greta nachäffte, diese gesunde Besserwisserin, die die Organtransplantation als Kannibalismus bezeichnet hatte.
Wir würden den Sterbenden das Leben rauben. Was für Leben, fragte sich Irma. Himmel, die sich nicht mehr zeigten; Münder, die nicht mehr sprachen. Herzen, die aufgrund von Maschinen schlugen. Röcheln. Gluckern. Zuckungen, die nichts bedeuteten.
Sie zog das Handy aus ihrer Jackentasche, wählte Richards Nummer. Ein junger Arzt ging an ihr vorbei, sagte aber nichts. Es dauerte eine Weile, bis Richard abhob.
„Hast du schon geschlafen? Ist mit Florian alles in Ordnung?“ Der Linoleumbelag in der Mitte des Korridors hatte jeden Glanz verloren.
„Alles okay, meine Liebe. Mach` Dir keine Sorgen. Brauchst du noch was?“
Ich habe ihn aufgeweckt, dachte Irma.
Richard räusperte sich, hustete.
„Ich war bis jetzt an der Maschine, deswegen hab ich nicht früher angerufen.“
„Du mußt dich nicht entschuldigen. Ich kann sowieso nicht schlafen,“ sagte Richard. „Ich schau, daß ich da bin, wenn du aufwachst.“
„Nicht nötig. Paß lieber auf Florian auf. Gute Nacht.“ Daß sie Angst habe, wollte sie noch sagen, aber er hatte aufgelegt.

„Einatmen. Luft anhalten.“ Sie überhörte das Klicken des Röntgenapparats. In der Leere und Kälte des Raumes fielen ihr Fragmente des Traumes ein. In den letzten Wochen hatte sie immer wieder die Dünen vor Augen gehabt, den weißen Sand, der über die Wüste wanderte. Obwohl sie nie dort gewesen war, träumte sie immer wieder von Expeditionen auf den Steilhängen der Dünen; waren sie beim Aufstieg noch leicht begehbar, löste sich auf dem Grat eine Lawine nach der anderen. Die Schuhe füllten sich mit Sand; Irma rutschte. Und die Sandkörner, einmal in Bewegung gesetzt, kamen lange nicht mehr zum Stillstand
Könnte ich nur wie die Strauße in eine Art lethargischen Zustand verfallen, dachte Irma, einen Sommerschlaf halten, wenn die Situation unerträglich wird.