Dieser Text erschien in „Gedanken reisen, Einfälle kommen an“ Die Welt der Notiz hrsg. von Marcel Atze und Volker Kaukoreit
Im Auftrag des Literaturarchivs der Österreichischen Nationalbibliothek und der Wienbibliothek im Rathaus. Sichtungen 16./17. Jg. Wien: Praesens Verlag 2017 S.51-53
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Meine roten Hefte
Sabine Gruber
Àgota Kristóf läßt im Roman »Das große Heft« die Zwillingsbrüder Lucas und Claus Erfahrungen, Erlebnisse und Beobachtungen notieren. Sie schreiben im Auftrag ihrer durch Krieg abwesenden Eltern, bleiben dicht an ihrem Leben, dicht an der Wirklichkeit dran.
Im April 1994 beschloß ich, nachdem ich die Spenderniere meiner Mutter erhalten hatte, mein zweites Leben nicht ebenso spurlos vergehen zu lassen, wie mein erstes. Ich nahm mir vor, täglich zu notieren, dicht an meinem Leben dranzubleiben. Es sollten keine ›klassischen‹ Tagebücher werden, vielmehr wollte ich einen verläßlichen Ort finden, der alles aufbewahrt, was für mich und für mein Schreiben von Relevanz ist. Die Hefte hierfür hatte ich bereits Jahre zuvor in einer Cartoleria in Venedig erworben: rote, unaufdringlich linierte, 290 Seiten dicke, gebundene Pigna-Hefte zum Stückpreis von 5.500 Lire. Der Vorrat reichte bis 2012, dann - das venezianische Geschäft auf dem Campo Manin war in der Zwischenzeit geschlossen worden - besorgte ich mir neue. Die HIG-Hefte aus einem Laden in der Wiener Wollzeile sind leider nur knapp 200 Seiten dick, ansonsten aber den alten ähnlich. Die in hoher Stückzahl erworbenen neuen Hefte bieten beruhigender Weise leere Seiten für mindestens ein Jahrzehnt.
In eine Buchbinder-, Buchdrucker- und Schriftsetzerfamilie mit dazugehöriger Papierhandlung hineingeboren, lebte ich von Kindheit an im Überfluß: Es gab alle Arten von Papier, Buchstaben zum Stempeln, Hefte, Stifte usw.. Das Notieren, Schreiben, Malen, Zeichnen, Kleben und Heften waren Teil einer kindlichen Beschäftigung, eines Spiels. Ich kann nicht sagen, wann aus Spiel Ernst wurde. Mit der Zeit wurden die Schreibunterlagen und das Papier kostspieliger wie kostbarer, weil mir auch das Geschriebene und das Gezeichnete teurer wurden.
Bei manchen mögen Hefte schlechte Erinnerungen wecken; sie denken an Schulaufgaben und unliebsame Zeiten. Ich habe immer schon gerne geschrieben und daher Hefte geliebt, vor allem neue, dicke, große.
Die nunmehr seit über zwanzig Jahren benützten roten Hefte im DIN A5-Format - inzwischen bin ich bei Nummer XXVI angelangt - sind nicht manteltaschentauglich, passen aber in eine mittlere Umhänge- oder in eine Damenhandtasche. Einmal mit schwarzer Füllfeder, schwarzem Kugelschreiber oder Fineliner vollgeschrieben, zeigen die Hefte die Zeichen der Zeit: Sie sind oft zerschlissen, an den Ecken abgestoßen, mit Klebestreifen notdürftig geflickt, wo sie auseinanderzubrechen drohen.
Auf den handschriftlich numerierten Seiten stehen datiert nach der Niederschrift ungeordnet Bemerkungen zu einem Buch, Zitate, Gedicht-Fragmente, Tagestermine, Beschreibungen einer Landschaft, Text-Ideen und Text-Entwürfe, banale oder komplizierte Menu-Abfolgen, Bildtitel von Museumsgemälden, Bemerkungen zu einer Person, Kommentare zu politischen Ereignissen usw. Ab und zu finden sich auch Skizzen oder Zeichnungen zum Beispiel von Beleuch-tungskörpern, Wandfiguren, speziellen Gefäßen. Es wechselt sehr Persönliches mit fiktiven Dialogen oder literarischen Textpassagen ab, die irgendwann später in einen Roman oder eine Erzählung einfließen könnten.
Erst ab Heft XIV habe ich begonnen, wichtige Notizen mit einem Stichwort zu versehen und die Stichwörter samt Seitenangabe auf der Heftinnenseite zu vermerken, welche in den alten Pigna-Heften ohnehin mit der Überschrift »an-notazioni« / »index« / »inhaltsverzeichnis« versehen ist. Denn nur mit diesem System ist das gesammelte Material auch später noch auffindbar und literarisch verwertbar (vgl. Abb. 20).
Meine roten Hefte sind Erinnerungsstützen, bergen Material und Zündstoff für neue Texte, sind eine Form der Selbstvergewisserung und dienen manchmal auch als Beweis.
Als mir von meiner Sozialversicherung irrtümlich die Gebühren für einen Ambulanzbesuch im Otto Wagner-Spital verrechnet wurden, konnte ich aufgrund der Eintragungen in mein rotes Heft exakt rekonstruieren, daß ich an besagtem Nachmittag eine wichtige berufliche Verabredung gehabt hatte und nicht Patientin der Psychiatrischen Abteilung gewesen war.
Eines der Hefte wurde mir entwendet, darunter leide ich bis heute. Im Oktober 2011 war ich zu Lesungen nach Kairo und Alexandria eingeladen. Ich hatte vor meinem Rückflug das vollgeschriebene Heft Nummer XX (5.4.2010-
21.10.2011) und den USB-Stick in den Koffer gegeben und nur das neu begonnene Heft Nummer XXI bei mir behalten. Als ich zuhause war, fehlten Heft und Stick. Vermutlich sitzt der ägyptische Geheimdienst noch heute über meinen Aufzeichnungen und sucht nach regimefeindlichen Aussagen oder nach der Preisgabe von Staatsgeheimnissen. Meine unleserliche Handschrift wird auf jeden Fall Rätsel aufgeben.